Infolge der des Öfteren konstatierten Statius- und Thebais -Renaissance liegt mittlerweile eine nicht geringe Zahl von Arbeiten vor, die unser Verständnis des statianischen Theben-Epos deutlich erweitert haben, wie z.B. die unlängst publizierten Monographien von McNelis und Ganiban.1 Es tritt nun erfreulicherweise an die Seite dieser und ähnlicher Arbeiten eine weitere: „La Tebaide di Stazio. Epica e potere“, mit der Federica Bessone einen Beitrag zur Gesamtdeutung dieses Epos leisten möchte.
Das Buch basiert auf mehreren Aufsätzen, die teils schon seit einigen Jahren publiziert, teils noch im Druck befindlich sind. Sie wurden überarbeitet, aktualisiert und um neue, bisher unpublizierte Materialien ergänzt. Auf das Vorwort (S. 11–13) und eine Einleitung (S. 15–29) folgt der in fünf Kapitel gegliederte Hauptteil (S. 30–223). Eine umfangreiche Bibliographie (S. 225–250), ein ausführlicher Stellenindex (S. 251–270) sowie ein Namens- und Sachregister (S. 271f.) runden den Band ab. Dass Macht und Herrschaft als eines der Hauptthemen des statianischen Theben-Epos anzusehen sind, darf heute als unstrittig gelten. Entsprechend wird die Thebais auch von Bessone als Beitrag zu einem Diskurs über (imperiale) Macht gedeutet. Gleichzeitig bietet die Verfasserin „uno studio del suo disegno epico come risposta a una crisi e come proposta, ideologica e poetica“ (S. 11).
Das erste Kapitel ist in zwei Hauptabschnitte geteilt, von denen der erste („ Tebaide e Silvae “) den Diskurs um Macht und clementia als einen Berührungspunkt zwischen lyrischem und epischem Werk des Dichters herausstellt. Ein typisches Charakteristikum dieses Machtdiskurses, das Denken in Oppositionen, teilen beide Texte. So leisten die Silven einen Beitrag zur Legitimation der flavischen Machthaber gerade in Abgrenzung zur neronischen Zeit (z.B. silv. 1,1,37-39; 2,7,116-119). Außerdem ist der Wert der clementia in beiden Fällen zentrales Element idealer Herrschaft ( silv. 1,4,43-49, zur Thebais s.u.). Was die Thebais von den Silven unterscheidet, ist die Distanz zum zeitgenössischen Geschehen, die sich aus dem mythischen Sujet ergibt. In der Thebais findet sich somit ein Machtdiskurs mit größerem Allgemeinheitsgrad und größerer Ambiguität, „fra elogio e ammonimento“ (S. 32). Die Gefahr der Degeneration zur Tyrannis bleibt immer gegeben, dies eine implizite Botschaft des von Negativität geprägten, nicht-teleologischen Epos. Ausgehend von Stellen wie Theb. 11,578f. und silv. 5,3,215- 219 fasst Bessone die Thebais als eine Art Fürstenspiegel auf: „Parlare del potere e (indirettamente) al potere, di fronte ai sudditi e al sovrano insieme: questo mi pare l’intento della Tebaide.“ (S. 34).
Im zweiten Hauptabschnitt des ersten Kapitels („Religione e potere“) befasst sie sich dann mit der Abwendung Jupiters vom Geschehen in Theb. 11 und der Rolle des Theseus in Theb. 12, letzteres eines der zentralen Themen des Buches. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Positionierung der Thebais zwischen Lucans Pharsalia, der vergilischen Aeneis und der Tragödie: So führt Statius zwar wieder einen Götterapparat ein, der sich von dem der Aeneis aber stark unterscheidet. Die Thebais, so Bessone, ist nämlich gekennzeichnet durch eine tragische „provvidenza assente“ (S. 54). Die menschlichen Akteure übertreffen ihrerseits zum Ende des Epos hin die göttlichen Mächte, einmal indem sie die Furien, denen Jupiter zuvor das Feld überlassen hat, in der Schaffung eines nefas überbieten (s. dazu unten zu Kap. 2), zum anderen indem Theseus und die Athener die Wiederherstellung der Ordnung in Abwesenheit von Jupiter bewerkstelligen ( Theb. 12). Werte wie pietas, clementia und natura werden nicht mehr von Göttern, sondern von Menschen repräsentiert. Bessone verortet diese Phänomene im Kontext imperialer Ideologie und Panegyrik, die einen Universalitätsanspruch kaiserlicher Macht propagieren, so dass der Kaiser Jupiter auf Erden und im Himmel geradezu zu ersetzen und die göttliche Vorsehung selbst zu repräsentieren vermag. Darüber hinaus verweist sie auf die für die römische Kultur typische Denkfigur einer Krise, die das Auftreten einer soteriologischen Gestalt erfordert. Eine solche Gestalt sei Theseus, der in der Thebais gewissermaßen autark und ohne göttlichen Beistand zu agieren in der Lage ist. Jener Held repräsentiert und begründet eine neue, erweiterte Form von clementia, der im Epos eine defiziente clementia seitens der Götter gegenübersteht. Jene positive clementia wiederum lässt einen Kaiser, wie Bessone zeigt, in die Nähe der Götter rücken.
Kapitel 2 befasst sich mit dem Theben-Mythos, seinen tragischen wie epischen Implikationen und wiederum der Sonderstellung des 12. Buches, hier vor allem mit dem Übergang von Buch 11 zu Buch 12. Nach Bessone ist das Element des Brudermordes der Punkt, an dem sich die Thebais am weitesten entfernt von der Gattung, die normalerweise von den κλέα ἀνδρῶν kündet. Dieser Brudermord stellt demnach einen Fremdkörper für das Epos dar: „Il nucleo della Tebaide è (e resta) tragedia allo stato puro“ (S. 101). Dies führt dazu, dass sich auch Form und Funktion des Epos denen der Tragödie annähern und z.B. Theseus als deus ex machina auftritt, wie schon in der Forschung bemerkt wurde. In einer subtilen Interpretation von Theb. 11,574-579 zeigt Bessone, wie Statius im Zusammenhang mit dem ,Nicht-Thema‘ des Brudermordes und auf der Folie der Aeneis (v.a. Nisus und Euryalus) eine Krise der kommemorierenden Funktion des Epos evoziert. Sie macht daraufhin eine neue Poetik des Epos aus, der Lucan den Weg bereitet hat: „Ricordare il male“ (87) ist das Ziel des ,neuen‘ Epos, das der Tragödie, insbesondere der senecanischen, nahesteht. Wie diese stellt es den Rezipienten warnende negative exempla vor Augen. Hiervon ausgehend entwickelt Bessone die These von der Thebais als Fürstenspiegel weiter: Die ersten 11 Bücher der Thebais verhielten sich zu Buch 12 wie die Dramen Senecas zu De Clementia und stellten die negative und die positive Seite desselben Machtdiskurses dar. Dies heißt aber nicht, dass Buch 12 von Bessone als uneingeschränkt positiv angesehen wird: „Esemplarità e pessimismo coesistono nella chiusa“ (S. 104).
Kapitel 3 bietet zusammen mit Kapitel 4 den Hauptteil von Bessones Beitrag zur Forschungs-Diskussion um die Theseus-Figur. Bessone positioniert sich hier dezidiert gegen subversiv-pessimistische Lesarten des athenischen Heros, wobei sie die Ambivalenzen und Ambiguitäten, auf die von Vertretern einer solchen Interpretation hingewiesen wird, in ihre eigene Deutung integrieren kann, indem sie sie in ihre Überlegungen zu Buch 12 einbindet: Dieses biete zwar in Ansätzen eine potentiell positive Perspektive, negiere aber nicht den Schrecken der vorangegangenen 11 Bücher (s.o.). Für diesen Schluss stellen u.a. Euripides’ Supplices einen wichtigen Bezugspunkt dar. Die dort angelegte Diskussion um die richtige Form von Herrschaft wird von Statius umgewandelt in eine Reflexion über gute und schlechte Eigenschaften eines (monarchischen) Herrschers. Ähnliche Umdeutungsoperationen zeigt Bessone schlüssig anhand der ara Clementiae in Theb. 12. Ausgehend vom „sincretismo. . .del nome, della sede, dei valori“ (S. 108) in der Altar-Ekphrasis, der Anonymität des Kultes sowie der Verwendung politischer und religiöser Sprache in dieser Textpassage kommt sie zu dem Ergebnis, dass Statius eine Art Gründungsmythos einer Zivilreligion konstruiere, „quasi una immanente religione del potere“ (S. 111). Als Modell für das Zusammenspiel von Macht und clementia diente Statius das literarische Lob der φιλανθρωπία Athens, das oftmals in den Dienst der Legitimation der athenischen Hegemonie gestellt wurde. Eine Erweiterung erfährt dieses Konzept im Falle von Statius’ ara Clementiae insofern, als die clementia zu einem universal-imperialen Wert ausgebaut wird, der weit über die hergebrachte römische clementia gegenüber Besiegten hinausreicht. Zugleich ist der Altar Bollwerk gegen die problematischen Auswüchse von Macht: unde procul starent iraeque minaeque / regnaque ( Theb. 12,504f.). Die neubegründete, statianische clementia erweist sich als ebenso vielschichtig wie die in Senecas De Clementia.
Kapitel 4 schließt eng an Kapitel 3 an und führt die Überlegungen zur Theseus-Figur weiter. Bessone sieht Theseus als Kulminationspunkt des politischen Diskurses des Epos. Der inhaltlichen Asymmetrie zwischen Theseus’ Machtausübung und ihren negativen Formen—wie sie vor allem von Creon, aber auch anderen Herrscherfiguren repräsentiert werden—entspricht die Asymmetrie auf der Ebene der narrativ-strukturellen Gestaltung des Epos. In diesem Zusammenhang geht Bessone auch auf die „accelerazione narrativa“ (S. 154) des Schlusses der Thebais ein. Wie schon angedeutet, liest sie Theseus als eine stark idealisierte Figur, ohne jedoch den Schluss des Epos selbst als idealisiert oder durchweg positiv anzusehen. Vielmehr vermischen sich am Ende Triumph und Trauer so stark, dass sie kaum mehr auseinanderzuhalten sind; den guten charakterlichen Eigenschaften des Theseus steht der furor der athenischen Soldaten gegenüber. Derartige paradoxe Züge werden von Bessone immer wieder an verschiedenen Stellen beschrieben und ausgedeutet. Weitere Beispiele für die Positiv-Zeichnung des Theseus: Problematische Aspekte der mythischen Tradition werden marginalisiert, weiterhin die Tötung Creons als Tyrannenmord legitimiert und durch die Zusicherung der Bestattung, die Theseus Creon gibt, nochmals ausbalanciert. Der Heros der Athener realisiert somit den universalen Anspruch auf Bestattung nicht nur im Sinne der Argiverfrauen, sondern auch im Falle Creons. Bei den vermeintlich problematischen Vergleichen von Theseus mit Mars weist Bessone nach, wie in Buch 12 negative Implikationen der Theseus-Figur eher in Abgrenzung zur Gestalt des Kriegsgottes (auch in den vorherigen Thebais -Büchern) neutralisiert werden; weitere Vergleiche wie der Löwenvergleich in Theb. 12,736-740 verweisen auf die Eigenschaften eines Herrschers, der mächtig und stark genug ist, seine Feinde zu besiegen, zugleich aber nach Erlangung des Sieges wieder Milde walten zu lassen vermag. Die prima facie problematischen, emotionalen Reaktionen des Errötens und Weinens ebenso wie der Zorn des Theseus in Theb. 12,588f. lassen sich auf dem Hintergrund des imperialen Herrschaftsdiskurses plausibel machen, und zwar insofern, als dem Gesicht des Herrschers eine wichtige kommunikative Funktion zukommt und eine iusta ira durchaus statthaft ist, falls sie sogleich abgelegt werden kann, wenn sie nicht mehr für kriegerische Zwecke notwendig ist. Ein weiterer Aspekt der positiven Zeichnung des Heros ist das Motiv der gastlichen Aufnahme, die ihm kurz vor Schluss des Epos vonseiten der besiegten Thebaner zuteil wird. Es verweist auf eine durch modestia ausbalancierte superbia eines siegreichen Helden bzw. Imperators, wie Bessone vor dem Hintergrund von Kallimachos’ Hecale, Aeneis 8 und späterer imperialer Panegyrik herausarbeitet. Insgesamt lassen sich, so die These, die Handlungen des Theseus an vielen Stellen geradezu als ein Panegyricus in narrativer Form auffassen.
Das fünfte und letzte Kapitel befasst sich mit der Figur der Argia, die sich in mehreren Hinsichten komplementär zu Theseus verhält. Repräsentiert dieser die offizielle Seite des Widerstandes gegen die Tyrannenherrschaft Creons, so repräsentiert jene die private. Steht Theseus für den Bruch zu den vorherigen Büchern, so stellt Argia ,tragische‘ Kontinuität her, ist sie doch durch ihre Bitte an den Vater ( Theb. 3,696) mitverantwortlich für den Krieg, in dem ihr Mann nun umgekommen ist. Die Rolle, die sie im Kontext des statianischen Epos zugesprochen bekommt, ist auf ihre Art eine ebenso exzeptionelle wie die des Theseus. Statius macht sie zu einer epischen Heroine, deren Treue über den Tod hinaus reicht und der einer tragischen Antigone gleichkommt. Bessone stellt dar, wie Statius, teils direkt, teils auf metapoetischer Ebene, Argia nicht nur auf Augenhöhe mit Antigone, sondern auch mit männlichen epischen Helden mit entsprechender virtus und Aristie bringt; hier wird die Rolle der „moglie eroica dell’eroe sventurato“ (S. 200) auf die Spitze getrieben. Darüber weisen Antigone und Argia vor Creon ( Theb. 12,452-463) Züge des senecanischen Helden auf. Eine plausible zeitgenössische Parallele zur starken „ fides coniugale“ (S. 222) der Argia, welche sich komplementär zur clementia des Theseus verhält, bietet Priscilla in silv. 5,1.
Dieses kurze inhaltliche Referat kann die vielschichtigen und detaillierten Überlegungen Bessones nur andeuten. Die Thesen werden auf der Mikroebene erarbeitet anhand einer nuancierten Ausleuchtung einiger zentraler Textpassagen (Theseus-Episode, ara Clementiae -Ekphrasis, Apostrophe(n) in Theb. 11, 574-579); ebenso bezieht die Verfasserin die Makrostruktur des Epos mit ein, die sie in fruchtbare Relation zu Denkfiguren und Motiven aus dem Macht-/ clementia -Diskurs ebenso wie zur griechischen Tragödie der klassischen Zeit bringt. Wichtige Leistungen des Buches sind m.E. vor allem der Nachweis der Bezüge zu jenem Macht-Diskurs sowie die sehr überzeugende Theseus-Deutung vor diesem Hintergrund und im Hinblick auf die Stellung des 12. Thebais – Buches; außerdem das Beleuchten von Reinterpretations- und Konstruktionsprozessen im Bereich der Ethik, der Ideologie und der Poetik der Gattung Epos. Aktuell gängige Forschungspositionen, z.B. zur clementia als Herrschertugend, werden von Bessone weiter ausdifferenziert.2 Eine große Stärke von „Epica e potere“ schließlich ist das Verdeutlichen von Verbindungen zwischen vermeintlich disparaten Aspekten des Epos. In diesem Zusammenhang zeigt sich allerdings ein gewisses Defizit in der Präsentation der Ergebnisse: Ein höheres Maß an Metatext wäre m.E. hilfreich gewesen; so ergeben sich Zusammenhänge für den Leser mitunter eher durch argumentative Evidenz als durch explizite Markierung.3 Die Fülle der feinsinnigen Beobachtungen wiegt dieses formale Defizit aber mehr als auf, und es gelingt Bessone, ein ebenso differenziertes wie stimmiges Bild der Gesamtkonzeption der statianischen Thebais zu zeichnen.
Notes
1. R. T. Ganiban, Statius and Virgil. The Thebaid and the Reinterpretation of the Aeneid. Cambridge 2007; C. McNelis, Statius’ Thebaid and the Poetics of Civil War. Cambridge 2007.
2. Eine schon ältere Arbeit, die in manchen Punkten eine inhaltliche Nähe zu Bessones Überlegungen aufweist, hat vermutlich deswegen keine Aufnahme gefunden, weil sie der Verfasserin nur schwer zugänglich war: E. Kabsch, Funktion und Stellung des zwölften Buches der Thebais des P. Papinius Statius. Diss. Kiel 1968.
3. Querbezüge werden zwar in Fußnoten vermerkt (z.B. S. 19 Fußn. 1, S. 187 Fußn. 4), aber keinesfalls konsequent (so hätte sich z.B. auf S. 16 ein Vorverweis auf Kapitel II.3 und II.4 angeboten). Stattdessen kommt es mitunter zu leichten Doubletten, die beim ersten Lesen irritieren (vgl. z.B. Kap. I.1.3 und Kap. IV; in Kap. I.1.3 wird S. 41 Fußn. 2 nur kurz vorverwiesen auf Kap. IV). Auch werden in der Einleitung (S. 15–29) zwar die Kapitel 1–4, nicht aber Kapitel 5 inhaltlich vorbereitet. Eine explizite Erläuterung der Feingliederung findet sich weder in der Einleitung noch systematisch in den Kapiteln.