In der Tradition von Leo Strauss und Thomas Pangle und bewusster Distanz zur aktuellen Nomoiforschung interpretiert Lutz Platons Nomoi als eine Untersuchung über das „göttliche Gesetz“ (Strauss), die die Berechtigung des politischen Philosophen zur Interpretation dieses Gesetzes nachweisen will. Mit dieser Verteidigung des politischen Rationalismus gegen die Ansprüche des göttlichen Gesetzes leiste Platon einen Beitrag zur Lösung des „theologisch-politischen Problems“ (Strauss) und zeige einen Weg, wie heute ein Dialog mit Verteidigern des göttlichen Gesetzes zu führen sei (Introduction 3-11, Conclusion 180-182).
In einem selektiven Durchgang durch die Nomoi, denen eine Interpretation des Minos vorausgeht, kommt Lutz zu folgenden Ergebnissen: Um herauszufinden, ob die Vernunft oder eine extra-rationale Fähigkeit zur Respektierung des göttlichen Gesetzes führt, müssen ‚ernsthafte‘ Bürger befragt werden, die unter diesem Gesetz leben und an seine Autorität glauben; denn nur so kann der Philosoph etwas über das Gesetz erfahren, das er noch nicht weiß. (I: The Minos and the Socratic Examination of Law 12-32)
Solche Bürger sind Kleinias und Megillos, die in den Nomoi von einem namenlosen Athener nach ihrer Meinung über das als göttlich geltende kretisch-spartanische Gesetz befragt werden. Sie sind überzeugt, dass die Götter wollen, dass wir vollkommen gut und dadurch glücklich werden, und glauben daher, dass das göttliche Gesetz die Gesamttugend fördert. Da aber das kretische Gesetz nur auf Tapferkeit zielt, bezweifelt Kleinias seine Göttlichkeit und hofft, vom Athener eine Gesetzesversion kennen zu lernen, die seinen Erwartungen an ein göttliches Gesetz besser entspricht. Damit ist ein gemeinsamer Boden für den folgenden Dialog gefunden. Wenn der Athener zeigen kann, dass er einen adäquateren Begriff von der Tugend und ihrer Beziehung zum Glück besitzt, hat er bewiesen, dass der Philosoph zur rationalen Lenkung der Politik befugt ist. (II: The Rational Interpretation of Divine Law 33-53)
Defizite des spartanisch-kretischen Gesetzes zeigen sich auch in der charakterlichen und musikalischen Erziehung. Bedeutsam ist die Bemerkung des Megillos 687e: Um zu tun, was fromm ist, muss man nicht nur von Gerechtigkeit, sondern auch von Intellekt ( nous) und praktischer Vernunft ( phronesis) geleitet werden; damit nimmt Megillos an, dass die Götter vernünftig sind. Die größte Unwissenheit hat Sparta freilich nicht durch Erziehung, sondern durch seine Mischverfassung vermieden. Altpersien wurde hingegen durch die Vernunft geleitet und das alte Athen durch weise Männer, die die Musik beaufsichtigten. Indem Megillos Persien und Athen bewundert, erkennt er an, dass Spartas Gesetze, die primär die Mäßigung fördern, nicht die höchsten Ziele erstreben. So ist es Sache des Atheners, einen besseren Gesetzeskodex auszuarbeiten, um zu zeigen, dass die menschliche Vernunft die Ziele des göttlichen Gesetzes begreifen und verwirklichen kann (III: The Examination of the Laws of Sparta 54-89).
Welche Tugend das göttliche Gesetz hervorbringt, zeigt die Erziehung. Gemäß Buch II beginnt die Erziehung mit der Dämpfung des angeborenen Bewegungsdrangs durch Musik und zielt darauf, dass die gut erzogenen Bürger möglichst große Lust an der Schönheit der Tugend empfinden. Die in Buch VII dargestellte Erziehung setzt dagegen die Existenz einer angeborenen Furchtsamkeit voraus, die sich vor allem auf den Tod richtet. ‚Gegenbewegungen‘ hierzu sind Gymnastik und Musik. Die Disposition der so erzogenen Bürger bleibt jedoch hinter der Tugend des vollkommenen Menschen zurück. Statt Freude an der Tugend vermittelt ihnen das Gesetz die Fähigkeit, der Furcht zu widerstehen (IV: Divine Law and Moral Education 90-115).
Die Ausführungen des Atheners über die Selbstbeherrschung machen weitere Grenzen des Gesetzes sichtbar. Während der Passus 644c1-d3 lehrt, dass der Mensch mittels seiner Vernunft seine Leidenschaften überprüfen soll, wird im Gleichnis von der Drahtpuppe 644d7-645c6 die Vernunft mit dem Gesetz identifiziert und gefordert, dass der Mensch mit dem Gesetz gegen die Leidenschaften anstrebt, anstatt darüber zu räsonieren, ob sie jeweils zum Besten führten. Statt zum Gebrauch der praktischen Vernunft befähigt die Erziehung also nur zum Widerstand gegenüber Schmerz und Furcht und zum Sieg über die Leidenschaften (wie z. B. das erotische Verlangen). Solche Bürger werden in ihrer Seele keine Harmonie zwischen Vernunft und Leidenschaften herstellen und nicht die gesamte Tugend besitzen. Auch wirken die Tugenden nicht immer harmonisch zusammen: indem das Gesetz dem Bürger zur Überwindung der Ängste Zuversicht und physische Kraft einflößt, fördert es eine Art von Tapferkeit, die gerade sein erotisches Begehren stärkt. Wäre dies das letzte Wort des Atheners, so wäre das göttliche Gesetz unfähig, die volle Tugend hervorzubringen (V: The Problem of Erotic Love and Practical Reason under Divine Law 116-133).
Die zum Glück erforderliche Gesamttugend ist die „vollkommene Gerechtigkeit“ (630c). Sie ist eine Disposition, die alle Einzeltugenden auf das Gemeinwohl ausrichtet. Sie wird jedoch nicht durch Belehrung oder Übung, sondern durch die Gesetze als Ganzes vermittelt, die den Wunsch erwecken, einem edlen und gerechten Ziel zu dienen. Da der gerechte Bürger aber merkt, dass die Gesetze ihm nicht alle Güter verschaffen, die er verdient, erwartet er, dass die Götter die Gerechten belohnen und die Ungerechten bestrafen. Dass sie dies tun, trägt der Athener aber nur als ‚mythische Bezauberung‘ (903b1) ohne argumentativen Beweis vor. Denn Bestrafung setzt schuldhafte Verantwortung voraus (904d); da aber niemand freiwillig ungerecht ist (731c, 860d), werden vernünftige und gerechte Götter keine Strafen oder Belohnungen austeilen. Wenn aber die Götter dem Gesetz keine weitere Unterstützung bieten, wird dieses den Gerechten nicht immer die Güter verschaffen, die sie vom tugendhaften Leben erwarten (VI: Perfect Justice and Divine Providence 134-164).
Wie die Gesetze anderer Staaten zeigen die Gesetze des Atheners ein Schwanken, weil sie nicht eines, sondern viele Ziele verfolgen (962d-e). Sie lehren nämlich eine Vielheit von Tugenden, die einander im Wege stehen können. Deshalb muss die Nächtliche Versammlung die Gesetze davor bewahren, widersprüchlich zu werden. Deren Mitglieder müssen neben der Dialektik auch den ersten Gottesbeweis studieren, der die Vernünftigkeit der Götter aufzeigt. Denn sie müssen erklären können, inwiefern die Einzeltugenden als Teile der Gesamttugend das Glück hervorbringen, und müssen zweifelnden Bürgern versichern, dass das Gesetz, auch wenn es nicht vollkommen ist, von Gott stammt. Die Rettung des Gesetzes besteht also in der Stärkung seiner Autorität. Aber selbst wenn die Nächtliche Versammlung nicht alle Ziele erreichen sollte, hätte der Athener immerhin einsichtig gemacht, dass das göttliche Gesetz vernünftige Lenkung durch die politische Philosophie benötigt (VII: The Savior of Divine Law 165- 182).
In dieser letzten, abstraktesten Formulierung geht das Beweisziel des Buches nicht wesentlich über das hinaus, was jedem Leser der Nomoi klar ist: ein Athener entwirft mittels seiner gesetzgeberischen Vernunft einen Gesetzeskodex, der auf die ganze Tugend zielt und damit die auch von den Gesprächspartnern zugegebenen Defizite der als göttlich geltenden spartanisch-kretischen Gesetzes vermeidet. Originalität gegenüber der bisherigen Nomoiforschung beansprucht Lutz für die Beobachtung, dass der Athener sich von seinen Gesprächspartnern über das göttliche Gesetz belehren lässt und ihnen die meiste Zeit zuhört (z.B. S. 52). Sie ist jedoch angesichts der unterschiedlichen Gesprächsanteile der drei Personen (lange Reden des Atheners, knappe zustimmende, oft auch zweifelnde und widersprechende Repliken der Gesprächspartner) kaum nachvollziehbar.
Neu ist auch die den Inhalt der Nomoi betreffende These, dass das Erziehungsprogramm sein Ziel nicht erreicht und der Athener selbst seinen Gesetzeskodex als unvollkommen einstuft. Sie ist Resultat einer Interpretation, deren undogmatischer Ansatz zwar manch überraschende und bedenkenswerte Einsicht zutage fördert, z.B. über die Rolle der vollkommenen Gerechtigkeit (S. 134-139), aber auch öfters den Textsinn verfehlt. Neben elementaren Missverständnissen (wie z.B. der Fehldeutung des Passus 636b über die Päderastie S. 57 oder der kontextwidrigen Beziehung 831e auf die Liebenden S. 118) ist hierfür vor allem eine problematische Interpretationstechnik verantwortlich:
Deutungshinweise des Textes werden häufig zugunsten textfremder Erwägungen ignoriert. Lutz versteht z.B. die aidôs (647a10) nicht kontextgemäß als Scheu vor dem Urteil der Gemeinschaft, sondern identifiziert sie mit dem gemäß Rudolf Otto vom mysterium tremendum ausgelösten Erschrecken (awe) und kommt so zu der erstaunlichen Behauptung, dass die Dorer die Gottesfurcht als Kern der Tugend ansehen (S. 64). – Die gemeinsamen Mahlzeiten begründet Lutz nicht mit der notwendigen Kontrolle des Privatlebens (780a-781d, vgl. 788a-c), sondern damit, dass wegen der Gefahr übergroßer Trauer um den Tod eines Familienmitglieds die Familienbindung gelockert werden soll (S 109). – Laut 816d-e dient die Komödie dem Kennenlernen des Lächerlichen, um es zu meiden (816d-e), nach Lutz dagegen dem Abbau von Furcht (S. 112). – Die angeblich im Mathematikunterricht vermittelte Lehre, dass der Kosmos der Notwendigkeit gehorcht (S. 114), ist mit 967a unvereinbar. – Dass die Erziehung zur Tapferkeit erotisches Begehren steigert (S. 130. 134), passt kaum zu 835d-e, wonach Müßiggang und Befreiung von harten Anstrengungen dieses Begehren wecken. Die darauf gegründete These, dass Tugenden einander im Wege stehen können, mag für naturhafte Tugenden (710a, 963e) oder angeborene Temperamente (Plt. 309a ff.) zutreffen, aber nicht für die von den Bürgern Magnesias als Elemente einer Gesamttugend zu erwerbenden Bürgertugenden.
Scheinbar divergierende Aussagen werden unter Vernachlässigung der vom Athener selbst bekräftigten hermeneutischen Prämisse der Widerspruchsfreiheit (746c8-d2) zum Ausgangspunkt weitreichender Folgerungen. Gravierendstes Beispiel ist die Trennung der Passage 644c1-d3 als ‚Bild‘ ( eikôn) von dem 645b1 als mythos bezeichneten Drahtpuppen-Gleichnis 644d7-645c6. In 644c1-d3 werden lediglich die in der Seele wirkenden Kräfte aufgezählt, deren Zusammenwirken dann das (644c1 mit eikonos angekündigte) Gleichnis verdeutlicht, indem es z.B. den ,Ratschlag‘ der Lust (644c6) als ‚Zugkraft‘ eines Drahtes (644e2) veranschaulicht. Anstatt das Gleichnis in dieser Weise textgemäß als Erläuterung des Vorausgehenden zu interpretieren, konstruiert Lutz einen unplatonischen Gegensatz, indem er den Logismos als Gebrauch der eigenen Vernunft dem Gesetzesgehorsam gegenüber stellt. Es geht Platon aber nicht um einen autonomen Vernunftgebrauch, sondern um die Anwendung des wahren Logos, den nur besonders Befähigte in sich selbst finden, die Bürger aber sich von einem Gesetzgeber vorgeben lassen müssen (645b4-6). Zu bedenken ist auch, dass der Logismos nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum agiert, sondern in Magnesia seit frühester Kindheit geprägt ist durch die musisch-moralische Erziehung (vgl. 665c). – Ebenso wenig berechtigen die Darlegungen zur Erziehung in Buch II und VII zur Annahme unterschiedlicher Konzeptionen. Am Anfang von II geht es um Kinder, die schon herumspringen, in VII um Säuglinge, deren Schreien als Zeichen der Furcht gedeutet wird. Auch ist der Konservativismus nicht auf Buch VII beschränkt: schon 656d ff. wird auf Ägypten als Vorbild verwiesen (vgl. 660c1), so dass die Forderung 665c lediglich äußerliche Variationen betrifft. Dass die Lust auch in II maßvoll sein soll, ergibt sich ohne weiteres aus 658e, wodurch der angebliche Gegensatz zu VII (S. 98) schwindet.
Eigenartig ist das Gottesbild, das Lutz in den Nomoi entdeckt. Aus 792d folgert er (S. 99), dass Gott Lust und Schmerz empfinde (was Phil. 33a-b widerspricht). 792d steht aber nur, dass Gott (dank seiner Freiheit von Leidenschaften) hileos (‚heiter‘) sei, während der Mensch diesem Zustand durch Mäßigung seiner Lust- und Schmerzempfindungen möglichst nahe kommen muss. – Dass man von den Göttern keine Hilfe zu erwarten habe (S. 99, 114), dürfte kaum Platons Ansicht sein (vgl. 699b7f., 732cd, 757e, 854b, 906a usw.). – Die Überlegungen über Belohnung und Strafe (154ff.) hätten durch einen Blick in die Strafgesetze im Buch IX an Klarheit gewonnen. Dort werden gerade die in voller Ungerechtigkeit begangenen Taten als freiwillig ( hekousia) eingestuft (z.B. 869e6, 874e7), weil der Täter trotz der ‚sokratischen‘ Unfreiwilligkeit der Ungerechtigkeit wegen der Beherrschbarkeit von Lust und Zorn (863d) strafrechtlich voll verantwortlich ist. Wenn aber der menschliche Gesetzgeber über den Ungerechten Strafen verhängt, kann dies auch vernünftigen Göttern zugetraut werden.
Vom Text nicht gedeckt ist schließlich die Behauptung, dass der Athener selber seinen Gesetzeskodex als unvollkommen einstuft. Denn seine Kritik in 962d-e betrifft explizit nur real existierende Staaten, deren Gesetze heterogene Ziele verfolgen. Um diese Kritik auf den Gesetzeskodex des Atheners auszudehnen, konstruiert Lutz einen Konflikt zwischen den Tugenden, der den Nomoi fremd ist. Der Gesetzeskodex ist vielmehr so vollkommen, dass zu seiner Vollendung nur noch ein bewahrendes Organ fehlt (960b). Dieses braucht den Gesetzen nichts mehr hinzufügen, sondern nur deren bereits vorhandene Ausrichtung auf die eine vierfältige Gesamttugend (688a ff., 705e) zu sichern. Was fehlt, ist lediglich die Festlegung eines Curriculums für die Nächtliche Versammlung; hierzu verspricht der Athener seine Hilfe (968e-969a; von Lutz S. 179 nicht berücksichtigt).
Fazit: Lutz hat ein mutiges, zum Nach- und Weiterdenken anregendes Buch geschrieben, das aber auch zeigt, dass eine aktualisierende Interpretation der Nomoi, so verdienstvoll sie sein mag, ohne umfassende Textkenntnis Gefahr läuft, wesentliche Intentionen Platons zu verfälschen.