Die Stadtwerdung Roms ist eines der umstrittensten Felder in der heutigen Altertumswissenschaft. Beim Ringen um die richtige Interpretation der schriftlich überlieferten Tradition, späterer römischer Abhandlungen zu Topographie und Geschichte sowie der archäologischen Hinterlassenschaft zwischen Palatin und Forum Romanum wird mit harten Bandagen gekämpft . Die Grenzen der feindlichen Lager sind klar umrissen: Hier die Forscher rund um Andrea Carandini, die archäologische Funde und Befunde der römischen Frühzeit im Lichte einer wörtlich verstandenen antiken Tradition interpretieren; dort die kritische historische Forschung, die davon ausgeht, dass die schriftliche Überlieferung kaum zuverlässige Rückschlüsse zulässt auf Verhältnisse, die über die archaische Zeit zurückweisen. Kristallisiert hat sich der Kampf in der Frage der Historizität des Romulus und der Interpretation der Topographie zwischen Palatin, Velia und Via Sacra.
Auch die Untersuchung der frühen Phasen des Heiligtums der Vesta stehen im Brennpunkt dieser unterschiedlichen Lager. Im Gebiet des republikanischen Heiligtums der Vesta am Forum Romanum wird seit über 100 Jahren gegraben und geforscht, ohne dass bisher eine abschliessende Publikation vorgelegt worden wäre; für alle Erkenntnisse kann man sich allein auf vorläufige Grabungsberichte beziehen. Entsprechend schwierig ist eine Beurteilung der bisher erreichten Ergebnisse.1
Es ist den Autoren der anzuzeigenden Publikation zugute zu halten, dass sie ihren vorläufigen Bericht ausführlich gestalten und ihre Ergebnisse zeitnah publizieren. Ziel der seit 2001 unternommenen Grabungskampagne war einerseits die stratigraphische Untersuchung der bereits früher freigelegten Strukturen des republikanischen Heiligtums. Andererseits sollte die These im Terrain verifiziert werden, ob der Kult der Vesta über das mittlere 7. Jh. v. Chr. hinaufreicht. Daher wurde die Stratigraphie bis auf den gewachsenen Boden hinab untersucht. Die Sondierungen konzentrierten sich in der nordwestlichen Ecke des kaiserzeitlichen atrium Vestae und betrafen das Gebiet des späteren Tempels und seines Vorhofs, der nordwestlichen Ecke des späteren Peristyls sowie des im Süden direkt an den Tempel anschliessenden Gebäudetrakts. Zusätzlich wurde auch unterhalb der via sacra im Norden des Bezirks sondiert.
Nach einem Vorwort von Andrea Carandini und der Einleitung von Nikolaos Arvanitis beginnt die eigentliche Darstellung mit einem Kapitel zur Topographie (Dunia Filippi). Herzstück der Publikation ist die Präsentation der stratigraphischen Untersuchungen (Nikolaos Arvanitis, Francesca Romana Paolillo, Fabio Turchetta); es folgt eine kurze Zusammenfassung der Funde (Alessia Argento, Sheila Cherubini, Elisa Gusberti); ein zusammenfassendes Schlusskapitel und ein Appendix runden das Buch ab.
Die frühesten Spuren im untersuchten Gebiet sind eine Reihe von aufgefüllten Gruben, in denen sich ein Keramikfragment der späten Bronzzezeit fand und eine darüberliegende Feuerstelle, die von den Ausgräbern in die frühe Eisenzeit datiert wird.
Erste Hinweise auf eine Besiedlung des Gebiets liefern Reste einer Mauer im Norden und eine Reihe von Pfostenlöcher einer südlich daran anschliessenden Hütte, die aufgrund der Stratigraphie und der hier aufgefundenen Keramik ins mittlere 8. Jh. v. Chr. datiert werden. Die Hütte wird auf der beachtlichen Grundfläche von rund 50 m2 rekonstruiert. Auf diese folgt rund 50 Jahre später, am selben Standort ein jüngerer Nachfolgebau, der zum Teil bereits von R. T. Scott aufgedeckt worden war, der in den Jahren 1987 bis 1996 im selben Bereich Sondierungen durchführte.2 Dieser Bau scheint im zweiten Viertel des 7. Jhs. durch einen Neubau ersetzt worden zu sein. Im Verlauf des 7. und 6. Jhs. finden sich im untersuchten Gebiet immer stattlichere Strukturen. Um 530 entsteht ein monumentaler Baukomplex, der sich um einen zentralen Hof gruppiert und die ganze untersuchte Fläche umfasst. Bis zum neronischen Brand Roms bleibt der Komplex in denselben Grundstrukturen bestehen.
Der kaiserzeitliche Tempel der Vesta steht am Platz seines Vorgängerbaus und erschwert bis heute das Verständnis der republikanischen Phasen. Arvanitis legte direkt im Süden der heutigen aedes einen Aufschluss an, der eine komplexe Stratigraphie zu Tage führte, die wohl noch vertieft zu untersuchen sein wird. Frühester Bau ist ein direkt an das präsumtive Tempelgebäude anschliessende rechtwinklige Struktur aus dem mittleren 6. Jh. v. Chr.
Die Funde aus den Grabungen werden ein erstes Mal knapp präsentiert. Es fällt auf, dass unter dem keramischen Material Kochtöpfe und Trinkgefässe vorherrschen. Für eine detaillierte Analyse des Materials und Rückschlüsse auf Kultpraktiken ist die definitive Publikation abzuwarten.
Für Andrea Carandini, der das Vorwort zum Bericht verfasst ist die Interpretation der neuen Befunde eindeutig: In der Mitte des 8. Jhs. v. Chr. entsteht hier vor Ort aus dem Nichts der von einer Umfassungsmauer umgebene erste Bezirk der Vesta und das erste Haus der Vestalinnen im Westen, die Regia der latinisch-sabinischen Könige im Osten. Damit wäre der Ursprung des Heiligtums der Vesta rund vier Generationen früher anzusetzen als bisher angenommen: „Ne consegue, che Roma è stata fondata come città-stato nel tempo indicato dagli storici di Roma e non in quello stabilito dalla critica storica maggioritaria“ (A. Carandini im Vorwort S. 11).
Bisher galt ein von Bartoli in den 1930er Jahren ausgegrabenes Depot, das Gebrauchskeramik, Ziegel, Reste von verbranntem Getreide und insbesondere eine Scherbe enthielt mit der Weihung an vis lies Ves(tai, aus dem mittleren 6. Jh. v. Chr. als frühestes gesichertes Zeugnis des Vestakultes am Forum Romanum. Die Forschung ging davon aus, dass sich der Kult hier irgendwann im frühen 6. Jh. angesiedelt hatte.3 Die Untersuchungen von Carandini und Arvanitis belegen eine Besiedelung des Platzes ab dem späteren 8. Jh. v. Chr., die bis in die späte Kaiserzeit nicht abriss.
Es ist aufgrund der vorliegenden Fakten schwierig zu entscheiden, ob wir mit Carandini und Arvanitis davon ausgehen dürfen, dass die ersten baulichen Spuren vor Ort bereits Zeugnis des Vestakults sind oder ob wir mit R. T. Scott schliessen müssen,4 dass es sich bei den ersten Hütten vor Ort um einen Teil einer präurbanen Siedlung handelt, die sich vom Palatin bis ins Tal des nachmaligen Forum Romanum erstreckte. Man darf also gespannt sein, auf die abschliessende Publikation, in der Funde und Befunde breiter und nachvollziehbarer dargestellt werden können, so dass eine detailliertere Überprüfung möglich wird.
Notes
1. vgl. dazu Nina Mekacher, Die Vestalischen Jungfrauen in der Kaiserzeit. Palilia 15 (2006), S. 82ff.
2. R. T. Scott, Hrsg., Excavations in the Area Sacra of Vesta. Supplements to the Memoirs of the American Academy in Rome (2009) 7f.
3. Ebd. S. 8
4. Ebd.