BMCR 2011.01.10

Greek: A Language in Evolution. Essays in Honour of Antonios N. Jannaris

, Greek: A Language in Evolution. Essays in Honour of Antonios N. Jannaris. Hildesheim/Zürich/New York: Georg Olms Verlag, 2010. xiv, 344. ISBN 9783487142555. €48.00.

Es ist das Verdienst von Chrys C. Caragounis, Prof. Emeritus an der Universität Lund, dass im Juni 2009 in St. Andrews ein Symposium zum 100. Todestag von Antonios Jannaris organisiert wurde und 2010 dann ein Band mit den dazugehörigen Vor- bzw. Beiträgen erschienen ist. Der einleitende Teil des Buches enthält Caragounis´ Vorstellung der einzelnen Buchbeiträge (S. 1-12), eine „Presentation and Evaluation of A. Jannaris´ Work“ durch N. Papadogiannakis und E. Nikoloudaki (S. 13-19) und schließlich eine umfangreiche und fundierte Biographie von Jannaris durch Caragounis selbst (S. 21-64). Dieser Teil enthält auch Jannaris´ ausführliche Ergographie (S. 60-62).

Thematisch setzt sich das Buch aus sechs Teilen zusammen, die insgesamt 13 Beiträge enthalten. Mit Ausnahme des ersten und letzen Teiles (Beiträge Nr. 1 und 13) befassen sich die übrigen vier Teile mit den vier Hauptperioden der griechischen Sprachgeschichte: Altgriechisch, Koine, Mittel- und Neugriechisch. Den Band schließen ein Autoren-, ein Stellen- und ein Sachregister ab. Die Autoren beschäftigen sich im Einzelnen mit folgenden Themen:

1) F. R. Adrados „The Greek Language: Its Oneness and Its Phases“. 2) D. Haug „The Language of Homer“. 3) A. Willi „Attic as the Language of the Classics“. 4) E. Crespo „The Significance of Attic for the Continued Evolution of Greek“. 5) J. Blomqvist „The Nature of Post-Classical (Hellenistic) Greek“. 6) C. C. Caragounis „Atticism. Agenda and achievement“ . 7) J. W. Voelz „The Greek of the New Testament: its Place within the Context of Hellenistic Greek“. 8) S. Wahlgren „The Byzantine Literacy Language and Classical Antiquity“. 9) J. Niehoff-Panagiotidis „The Earliest Texts in Modern Greek among Jews“. 10) G. Papanastassiou „Katharevousa: Its Nature und Contribution to Modern Greek“. 11) A. Moser „The Roots of Demotic and Its Place in the History of Greek“. 12) Ch. Charalambakis „Neohellenic: The Present State“ 13) G. K. Giannakis „Can a Historical Greek Grammar Be Written? – An Appraisal of A. N. Jannaris´ Work“.

Titel und thematische Gliederung des Bandes stellen einerseits eine deutliche Verbindungslinie zwischen den verschiedenen Beiträgen her und bekunden andererseits die Intentionen des Herausgebers, das Griechische als eine einheitliche Sprache zu betrachten (vgl. S. 12). Die große Zahl der einzelnen Beiträge, obwohl alle sehr interessant, gut geschrieben und anregend sind, macht allerdings eine ausführliche Besprechung wenig sinnvoll, weswegen ich mich auf bestimmte Aspekte und Beiträge beschränken möchte, die einerseits das „Selbstverständnis“, andererseits die Dialektik des Buches veranschaulichen.

F. R. Adrados vergleicht beispielsweise Alt- und Neugriechisch und konstatiert, dass es sich dabei um dieselbe Sprache handele (S. 68, 79 unten). Des Weiteren erwähnt Adrados, dass keine (wesentliche) Zäsur in der griechischen Sprachgeschichte zu erkennen sei (S. 82), welche die Einheit der griechischen Sprache zerstört hätte. Auf der Grundlage der Kriterien, die er dabei anwendet, entsteht die methodische Frage, ob auch Englisch, Deutsch oder zumindest Italienisch von der Antike bis heute als jeweils eine einzige Sprache gelten dürfen. Wird hier Sprache nicht als synchrones Sprachsystem aufgefasst? Von der grundsätzlichen Frage nach der Einheitlichkeit und Kontinuität einer Sprache abgesehen, hätte man im Fall des Griechischen zumindest drei Aspekte stärker bzw. überhaupt berücksichtigen sollen: 1) dass Alt- und Neugriechisch trotz der inzwischen einheitlichen Namenbezeichnung, Griechisch/Grieche, die vorwiegend sowohl um 1800 als auch um 1900 heiß diskutiert worden ist (man denke an die Unterscheidung zwischen „romaiki“, „graikiki“ und „helleniki glossa“)1 und die die Trennung zwischen Alt- und Neugriechisch auch begrifflich fassbarer machte, zweifelsohne zwei unterschiedliche Sprachsysteme darstellen, ähnlich wie das Lateinische und Italienische; 2) dass es sehr wohl entscheidende Einschnitte in der griechischen Sprachgeschichte gegeben hat, die das Alt- vom Neugriechischen sehr eindeutig trenn(t)en. In diesem Sinne muss man neben den „Konstanten“ sowohl von innersprachlichen (Verlust des Infinitivs und des Dativs, Veränderungen in der Verbal- und Nominalflexion usw.) als auch von außersprachlichen „Inkonstanten“ (z.B. das Verhältnis zur Sprache zwischen dem 15. und 18./19. Jh.) im Sinne S. Sondereggers sprechen;2 3) dass (inner)sprachliche Kontinuität keine sprachliche „Gleichsetzung“ einer Sprachstufe und somit eines Sprachsystems A mit einer Sprachstufe und somit einem Sprachsystem B bedeutet.

Auch J. Blomqvist geht in seinem Beitrag davon aus, dass Griechisch trotz seiner geographisch großen Verbreitung in der hellenistischen und in der Kaiserzeit im Wesentlichen eine einheitliche Sprache geblieben ist, wie laut Blomqvist ein Vergleich zwischen Lysias (5./4. Jh. v. Chr.) und den Apostelakten (1. Jh. n. Chr.) belegen könne. Der Autor konstatiert „Hellenistic koine, as represented by Luke and his Acts, is practically identical with classical Attic as represented by Lysias´ speech“ (S. 147). Obwohl Blomqvist den Unterscheid zwischen gesprochener und geschriebener Sprache (kurz) anspricht (S. 148 Mitte), versteht er unter „hellenistisches Griechisch“ im Wesentlichen lediglich die literarische geschriebene Koine; die Entwicklung der gesprochenen Sprache (Volkssprache), die im Wesentlichen als einzige die innere Sprachentwicklung dokumentiert, und somit auch der einfachen Koine werden hiermit außer Acht gelassen. Berücksichtigt man aber hellenistische Briefe (des niedrigen Registers), auf die bereits A. Deissmann aufmerksam gemacht hat,3 ergibt sich bekanntlich ein ganz anderes Bild von der „Unveränderlichkeit“ der Koine. Wie gut ein griechischer Muttersprachler des 1. Jh. ohne rhetorische (Aus)Bildung Lysias verstanden hätte, ist dabei äußerst fraglich. Dass sich das Griechische als literarische Schriftvarietät zwischen Lysias und der Prinzessin Anna Komnena im 12. Jh. wenig verändert hat, steht außer Frage, dies bedeutet aber nicht, dass das Griechische als jeweils synchrones Sprachsystem sich nicht verändert hätte.4So kommt man auf die bereits angesprochene Frage zurück, nämlich ob Sprache als synchrones Sprachsystem oder als Oberbegriff für mehrere in der Diachronie verwendete und wenig veränderte Schriftregister—was hier der Fall zu sein scheint—definiert wird, wobei das Dilemma eher rhetorischer Natur ist, zumal Sprache in diesem Kontext eindeutig zu definieren ist.

J. W. Voelz´ Beitrag hingegen lenkt in die entgegengesetzte Richtung: Er erinnert an A. Deissmann und verweist zu Recht unter anderem auf zweierlei, einerseits auf die stilistische und strukturelle Vielschichtigkeit des neutestamentlichen Griechisch, andererseits darauf, dass es ein neutestamentliches Griechisch an sich nie gegeben hat, aus dem einfachen Grund, dassdie Autoren des Neuen Testaments ein durchaus repräsentatives hellenistisches Griechisch schrieben. Somit beantwortet er indirekt, aber sehr treffend die Frage sowohl der vermeintlichen „Unveränderlichkeit“ als auch der vermeintlichen „Dekadenz“ des neutestamentlichen Griechisch.

C. C. Caragounis versucht, den Attizismus ins positive Licht zu rücken und zu zeigen, dass dieser für die Spaltung des Griechischen in eine niedrige und eine gehobene Varietät (in der Soziolinguistik als Diglossie bekannt), gar nicht verantwortlich sei, weil Diglossie bereits in der klassischen Antike existiert hätte. Des weiteren versucht er einige „Verdienste“ des Attizismus für die griechische Sprachgeschichte und das Neugriechische herauszuarbeiten. Zum Thema „Diglossie“ und „Diglossie in der griechischen Antike“ wären folgende Punkte zu beachten: 1) Fergusons Definition der (Binnen)Diglossie wird weitgehend missinterpretiert,5 zumal dort nicht von zwei (unterschiedlichen) Sprachen, sondern von zwei Varietäten ein und derselben Sprache die Rede ist (mit Verweis u.a. auf den Gegensatz zwischen Katharevousa und Dimotiki, Hochdeutsch und Schweizerdeutsch, Hocharabisch und Dialekten). In diesem Sinne ist der Verweis auf „Dimorphie“6 überflüssig und teils etwas verwirrend (vgl. z.B. Caragounis´ Kommentar zu der vermeintlichen Fehlinterpretation des Wortes Diglossie im Griechischen auf S. 161 Anm. 60. 2) Die Behauptung, die Existenz einer Diglossie-Situation im klassischen Griechisch sei offensichtlich und werde durch die antiken Quellen gestützt (S. 162), ist überaus fraglich. Horrocks, worauf Caragounis (S. 162 Anm. 70) hauptsächlich verweist, bezieht sich ausschließlich auf die Koine (S. 37-40, 79-83) und warnt zu Recht vor anachronistischen Vergleichen (S. 6); an dieser Stelle wäre eigentlich S.-T. Teodorsson zu erwähnen,7 der in den letzten Jahren die Diglossie-These in der griechischen Antike favorisiert, wobei Teodorsson dadurch hauptsächlich die phonetischen „Widersprüche“ des inschriftlichen Materials erklären will. Im Wesentlichen setzt man irrtümlicherweise sehr oft diastratische (Soziolekt) und/oder diaphasische (Stil/Register) Variationen im Altgriechischen diglossischen Varietäten gleich, um eine Diglossie in der klassischen Antike zu postulieren, was allein aus rein methodischer Sicht unzulässig ist und zu irreführenden Schlüssen führen kann. Diglossische Varietäten sind u.a. linguistisch eindeutig voneinander distinkt, funktional komplementär und betreffen sämtliche Sprachbereiche: Phonologie, Morphologie, Syntax und Wortschatz. Derartige Belege gibt es für das klassische Griechenland nicht, wo der gesamte soziolinguistische Kontext bei jetziger Quellenlage eine Diglossie ausschließt. Sekundärquellen, die oft zitiert werden, z.B. Aristophanes, zeugen von diastratischen und diaphasischen Variationen, nicht von Varietäten im soziolinguistischen Sinne.8

Der anschließende Abschnitt über die „Verdienste“ des Attizismus erscheint aus der Sicht der postdiglossischen Situation Griechenlands merkwürdig. Wenn auf S. 172 für den Zeitraum der letzten 30 Jahre von Demotizisten die Rede ist, oder gar von Demotizisten, die Katharevousa-Wörter assimilieren wollen und dabei angeblich Psycharis-Vorschläge von 1900 befolgen (S. 172), entstehen dabei grundlegende Fragen über die angewandte Methodologie bzw. die Art und Weise, wie die neugriechische Sprachgeschichte oder die Begriffe Katharevousa, Dimotiki und Standardneugriechisch hier verstanden werden. Die griechische Diglossie wird ausschließlich soziolinguistischen Variationen gleichgesetzt, während häufig unklar ist, ob dabei von der hellenistischen Zeit, dem 19., dem 20. oder der Gegenwart die Rede ist. Zu beachten wäre u.a. auch der Umstand, dass die soziokulturellen und -linguistischen Verhältnisse in der hellenistischen Zeit mit jenen der spätbyzantinischen und viel weniger mit jenen um 1800 nicht undifferenziert verglichen werden können. Allein die neugriechische Diglossie hat beispielsweise teils recht unterschiedliche (soziokulturelle und -linguistische) Situationen zu beschreiben, wenn die Verhältnisse um 1850 mit jenen um 1950 verglichen werden.

Im Wesentlichen steht die in einigen Beiträgen zu Tage tretende Vorstellung von einem einheitlichen, nicht oder wenig veränderten Griechisch, von sprachlicher „Dekadenz“ oder von der „Aktualität“ der Wertekonflikte im Diglossiekontext vor allem zum gesamten fünften Teil des Buches in starkem Widerspruch9—dort geht z.B. Papanastasiou auf die Unterschiede, die den systemisch unterschiedlichen Charakter der zwei Varietäten zeigen, ein, Charalambakis geht eben gegen typische Mythen der (neu)griechischen Sprachideologie vor („Decline“, „Foreignisms“, „Hellenizing foreign words“ usw.) und Moser bezeichnet u.a. die Gleichung „Attizismus : Sprachfrage“ zu Recht als anachronistisch (S. 255) und hebt die schriftliche/literarische Tradition der Volkssprache/Dimotiki zwischen dem 16. und 18. Jh. hervor. Auf solche Gegensätze, die manchmal weit über das, was man unter „unterschiedliche Thesen“ im akademischen Diskurs versteht, hinauszulaufen scheinen, nimmt der Herausgeber in seiner Einleitung selbst Bezug (S. 11: „this is exactly how it should be in scientific discourse and research“); umso mehr erscheinen die berichtigenden Kommentare des Herausgebers an wenigen Stellen (z.B. S. 230 Anm. 8 [an Papanastasiou] oder S. 259 Anm. 7 [an Moser]) recht eigenartig.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass, wenn auch einige, für die Gesamtthematik des Buches bedeutende Aspekte zweifelsohne diskussionsbedürftig sind, hier als Ganzes ein sorgfältig vorbereiteter Band mit anregenden Beiträgen, die einerseits ausgewählte Aspekte der griechischen Sprachgeschichte darstellen, andererseits ein repräsentatives Bild vom Leben und Werk des Antonios Jannaris vermitteln, vorliegt.

Notes

1. Vgl. z.B. K. Th. Dimaras, Neoellinikos diafotismos. Athen 1977, 21993, 82 ff.

2. S. Sonderegger, Grundzüge deutscher Sprachgeschichte. Diachronie des Sprachsystems. Bd. 1: Einführung, Genealogie, Konstanten. Berlin/New York 1979

3. A. Deissmann, Licht vom Osten. Tübingen 1923

4. Zur „Vieldeutigkeit“ des Begriffs „Altgriechisch“, den Unterschieden zwischen gesprochener und geschriebener Sprache sowie der (Un)Zuverlässigkeit der Graphie als Zeugnis der Lautentwicklung vgl. Ch. Karvounis, Aussprache und Phonologie im Altgriechischen. Darmstadt 2008, wo auf die „Widersprüchlichkeit“ des Quellenmaterials und die Komplexität dessen Auswertung im Sinne A. Strohscheins und S.-V. Teodorssons hingewiesen wird.

5. Ch. Ferguson, Diglossia, Word 15, 1959, 325-340. Die Ausweitung des Begriffs erfolgte erst durch J. Fishman, Bilingualism with and without diglossia; diglossia with and without bilingualism, Journal of Social Issues 23(2), 29-38.

6. meines Wissens zunächst von G. Babiniotis ( Neoelliniki Koini. Athen 1979, 28, 86 ff.) verwendet; hierzu s. die berechtigte Kritik von G. Hering, „Die Auseinandersetzung über die neugriechische Schriftsprache“, in: Chr. Hannick (Hrg.), Sprachen und Nationen im Balkanraum. Köln-Wien 1987, 190 ff.

7. z.B. „Diglossie in griechischen Dialekten“, in: Die altgriechischen Dialekte. Wesen und Werden. Innsbruck 2007, 463-478.

8. Moser, 253 (in diesem Band) weist zu Recht ausdrücklich darauf.

9. Zu den ersten beiden Punkten vgl. A.F. Christidis´ und A. Frangoudakis Beiträge „I archaia kai i neoteri elliniki glossa: i autonomia tis dimotikis“ und „I glossiki phthora kai oi megalomaneis glosses“, in: G. H. Charis, Deka mythoi gia tin elliniki glossa. Athen 2001, 35-44; 45-52.