Daß der Stoiker Seneca wirkungsvolle Tragödien schrieb, die in auf den ersten Blick so unstoischer Weise Emotionen und Affekte in höchster Entfesselung zeigen, hat immer schon große Verwunderung hervorgerufen. Versuche, diese Merkwürdigkeit zu erklären, reichen von der Annahme, es handle sich um philosophische Lehrstücke, die den unheilvollen Effekt der Ausschaltung der ratio und der Unterwerfung unter die
Seneca selbst schweigt sich über sein Tragödienwerk völlig aus; die mageren Hinweise anderer (Plinius d.J., Quintilian) können bis heute nicht unumstößlich in Bezug zu seiner Dichtung gesetzt werden. Also durchforscht Staley Senecas Prosaschriften nach Hinweisen, welche Haltung der Philosoph gegenüber der Tragödie bzw. zum Tragischen an sich einnimmt und ob sich das stoische Denken überhaupt dramatischer, speziell tragischer Ausdrucksmittel bedienen kann, ohne seine ethischen und psychologischen Grundhaltungen zu konterkarieren. Diese im Grunde selbst philosophische Erweiterung der zu erörternden Thematik scheint (nach allem bisher Gesagten) auch wirklich die einzige Möglichkeit zu sein, “Seneca’s Idea of Tragedy” sinnvoll zu erfassen, und Staley entwickelt diese theoretischen Grundfragen denn auch gleich zu Anfang, in seiner “Introduction” (S. 3-10) und im ersten Kapitel (11-23), mit überzeugender Systematik.
Erstaunlicherweise lassen Senecas gelegentliche Äußerungen über Poesie eine gewisse Geringschätzung erkennen, wenn auch, wie sich im Verlauf von Staleys Erörterung ergibt (s. bes. Kap. 2, 24-51), nur auf den ersten Blick. Ganz im Sinne der von ihm [ep.] 49,5 referierten abfälligen Bemerkung Ciceros über die Lyriker würdigt Seneca an der Dichtung höchstens die Sentenzen, die sich für ethische Reflexion fruchtbar machen lassen (vgl. ep. 108,8-12); sonst erblickt er eine große Gefahr darin, daß die Dichter die Affekte eher noch entflammen ( ep. 115,12-14, mit Beispielen aus der griechischen Tragödie). Angesichts dessen konnte die Ansicht aufkommen, die Tragödien seien als Ausdruck eines unterschwelligen Zweifels an der Tragfähigkeit der in den Prosaschriften nach außen hin vertretenen stoischen Lehrmeinungen zu verstehen, ja geradezu als Äußerung einer Faszination durch das Abgründige und Monströse, mit dem Seneca seine Dichtung als bewußten Kontrapunkt zur stoischen Philosophie aufbauen wolle. Staley lehnt derartige einem gleichsam psychoanalytischen Ansatz entspringende Spekulationen zu Recht ab (s.v.a. 42-47 gegen Schiesaro3 und Littlewood4). Selbst hält er sich allerdings nicht immer mit spekulativen oder gezwungen wirkenden Mutmaßungen über Textstellen zurück, die er als indirekte poetologische Äußerungen des Dichters ansieht. So erscheint der angebliche Bezug zwischen der “Emendation” eines Textes und dem emendare der eigenen Persönlichkeit doch etwas weit hergeholt (33), und anläßlich der grundsätzlich überzeugenden Ausführungen zur Allegorie (34-36) berücksichtigen weder er noch der von ihm zitierte Glenn Most, daß die scheinbare “Mythenkritik” Phae. 186 ff. unbedingt im innerdramatischen Zusammenhang der Auseinandersetzung zwischen Phaedra und ihrer Amme gesehen werden muß, beide Ansichten also keineswegs mit Notwendigkeit auf Senecas eigene Meinung schließen lassen. Mehr läßt sich aus der Äußerung nat.quaest. IV a praef. 14 gewinnen, wo die carmina und die Philosophie als Beschäftigungen, die keinen unmittelbaren materiellen Gewinn erbringen und sich dennoch lohnen, nebeneinander und erkennbar nicht im Gegensatz zueinander stehen (Staley 40). Ohnehin muß hervorgehoben werden (Staley 49), daß man die oben zitierte Stelle aus ep. 49 nicht gegen die Beschäftigung mit der Tragödie ins Feld führen kann, denn, so sagt Seneca ausdrücklich über die Lyriker, ex professo lasciviunt. Wie ep. 115 zeigt, kann sich Seneca eine “spielerische” (
Läßt sich nun doch zu einer positiven Aussage über Senecas poetische Absichten gelangen? In Kap. 3 (52-65) nimmt Staley die stoische Haltung zur Poesie in den Blick. Überraschen mag es schon, daß prägende Gestalten der Stoa der Dichtung, und zwar insbesondere der Tragödie, eine durchaus wichtige Rolle in der philosophischen Erkenntnisbildung zubilligten. Die Palette reicht dabei vom großen Erneuerer der Stoa im 3. Jhdt. v.Chr., Chrysipp (zu ihm viele Stellen und eine differenzierte Erörterung 67-70), bis hin zu Epiktet, dessen Lebenszeit sich mit der des Römers noch berührt. Wir haben hier Staley dafür zu danken, daß er die durchaus philosophisch gesehene Bedeutung der
In engem Zusammenhang hiermit führt Kap. 4 (66-95) in den für das Verständnis der senecanischen Dichtung fundamental wichtigen Bereich der stoischen Psychologie. Dabei wird (wiederum womöglich überraschend) deutlich, daß das im Zusammenhang mit Seneca oft geäußerte Bedenken, die Darstellung irrationalen, ja psychopathischen Verhaltens rege zur Nachahmung eines solchen Verhaltens an,5 eher mit der platonischen Kritik an der Tragödie übereinstimmt als mit der stoischen Ansicht über Dichtung.6 Anders wäre vor allem Epiktets häufiger Rekurs auf die Tragödie nicht zu erklären.7 Auch hier wird man Staley ungeachtet mancher Fragwürdigkeiten im einzelnen zubilligen, daß er zu einem überzeugenden Ergebnis gelangt, wenn er unter Hinweis auf Aristoteles’ Konzept der Katharsis ( Poet. 1449 b 27 f.) feststellt: “within both his plays and his philosophical essays, Seneca suggests that these vivid passions of passionate souls serve not to make us passionate but instead help us to understand and to reject similar feelings” (7 f.).8 Dies zeigt einen gesunden Mittelweg der Interpretation auf: Die Dramen wären dann weder Lehrstücke in stoischer Pathos-Philosophie noch “subversiver” Ausdruck eines Zweifels an ihr, sondern Studien über die Konsequenzen “irrationaler” Seelenhaltungen anhand mythischer und daher allgemein bekannter und vielfältig auf die Lebenswirklichkeit anwendbarer exempla.9 Sicher ist dieser Gedanke keineswegs neu; aber die Systematik der Untersuchung, die über sorgfältig interpretierte Gedanken Senecas hinaus den denkerischen Hintergrund der gesamten Stoa detailliert in den Blick nimmt, stellt diese richtige und wichtige Einsicht auf eine deutlich festere Grundlage. Kritisch sei allerdings angemerkt, daß der 81-87 erörterte Zusammenhang von Tragödie und Gerichtssituation zu konstruiert erscheint, obwohl der (von Staley aus Aristoteles hergeleitete) Gedanke sicher richtig ist, daß im Inneren der handelnden Personen ein “Prozeß” stattfindet. Hier spielt Staley eine gewisse Neigung zu einem terminologischen quid pro quo einen Streich, was ebenso 88 f. auffällt, wo er bestimmte mit
Kap. 5 (96-120) sucht die bisherigen Erkenntnisse anhand von Detailinterpretationen zu vertiefen; es ist zugleich der problematischste Teil des Buches. Staley will die “monströsen” Gestalten der Tragödien als Schlüssel zum Verständnis von Senecas poetischer Psychologie erweisen, verstrickt sich dabei jedoch des öfteren in psychologisierende Spekulationen und bietet fadenscheinige Parallelen (etwa 106 zwischen Thy. 392 und de ira III 5,3). Ganz allgemein erliegt er der Versuchung, mithilfe moderner Theorie, in diesem Fall der naheliegenden Freudschen Psychoanalyse, mehr in die antiken Werke hineinzugeheimnissen, als er durch die solide textorientierte Interpretation der vorausgehenden Teile an belastbaren Erkenntnissen gewonnen hat.
Ein paar Kritikpunkte zu Form und Inhalt des im ganzen gut lesbaren und sorgfältig abgefaßten Buchs seien noch kurz erwähnt: Auf S. 29 bezeichnet Staley den ep. 94,43 angeführten Ausspruch avarus animus nullo satiatur lucro als “not metrical”; in Wahrheit haben wir mit diesem Vers wie auch mit dem folgenden einen schönen iambischen Senar vor uns, entnommen aus Publilius (A 57 Friedrich). Zu der für Staleys Thema wichtigen Figur des Hercules fehlt einiges an Literatur (31). In einem Buch, dessen Leserschaft ohne Kenntnis der klassischen Sprachen wohl kaum der Erörterung folgen kann, befremdet die Praxis ein wenig, sämtliche Zitate aus den antiken Autoren in Übersetzung wiederzugeben. Jedoch ist dies wohl dem Konzept des Verlags geschuldet, nicht dem Autor; aber es muß doch kritisch angemerkt werden, ob hier nicht auf Dauer einem “classics light” Vorschub geleistet wird, bei dem man am Ende ohne gründliche Sprachkenntnisse auszukommen meint. Das System wird nicht einmal konsequent verfolgt, vgl. 41 f. Schade ist es zudem, daß in Publikationen eines für die Altertumswissenschaften so renommierten Verlags das Griechische nur noch in Umschrift dargeboten wird – und auch dann nicht einmal konsequent, vgl. 47; geradezu mißverständlich wird es 92, wenn man beim ersten Lesen der defektiv umgeschriebenen (und doch für die Erörterung so wichtigen) Termini “katharos” und “enargos” den Eindruck gewinnt, Staley habe hier ein nicht existentes Adjektiv
Druckfehler kommen wohltuend selten vor; zu notieren waren 72 “an[d] audience”, 87 “Curiat[i]us Maternus”, 108 “t[r]emor”, 133 ein nicht kursives “Sic” und ein schwerer wiegendes Versehen 52, wo Aristoteles, Poet. 1450 statt richtig 1451 angegeben ist.
Insgesamt gelangt Staley zu richtigen und wichtigen Erkenntnissen über Senecas Haltung zur Tragödie und zum Tragischen, wenn auch nicht immer auf überzeugenden Wegen. Wer sich mit der Frage befaßt, was Seneca zu Schreiben seiner Tragödien bewogen haben könnte, der findet in Staleys Buch wertvolles Material und gute Anregungen zum weiteren Nachdenken.
Notes
1. Theodor Birt, “Was hat Seneca mit seinen Tragödien gewollt?”, Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Litteratur 14 (1911) 336-364; Franz Egermann, “Seneca als Dichterphilosoph”, Neue Jahrbücher für Antike und deutsche Bildung 3 (1940) 18-36; vor allem Berthe Marti, “The Prototypes of Seneca’s Tragedies”, Classical Philology 42 (1947) 1-16.
2. Dies wurde vor allem vertreten von Joachim Dingel, Seneca und die Dichtung (Heidelberg 1974), s. bes. S. 17: Senecas Tragödien seien “die poetische Negation stoischer Vorstellungen.”
3. Alessandro Schiesaro, The Passions in Play. Thyestes and the Dynamics of Senecan Drama (Cambridge 2003).
4. C.A.J. Littlewood, Self-Representation and Illusion in Senecan Tragedy (Oxford 2004).
5. Dieses Bedenken sollte sich eigentlich schon mit der von Staley 21 angeführten Euripides-Anekdote ep. 115,14-16 erübrigen.
6. Vgl. Platon, Rep. 99 a 3 und 605 c – 607 a; Aristoteles, Poet. 1448 b 12-16, Rhet. II 1,8 und de an. 432 a 7-9.
7. Hierhin gehört auch der ebenfalls in stoischer Tradition schreibende Pseudo-Longin, wie Staley 17 zu Recht betont (vgl. de subl. 15,1 f. mit Russell a.l.).
8. Dazu vergleicht Staley 19 f. mit Recht die einschlägigen Äußerungen de ira II 2-5 sowie 89-92 den 108. Lucilius-Brief.
9. Entsprechend erblickt Strabon, auch er ein von der Stoa beeinflußter Autor, in der Vorliebe des Menschen für mythische Geschichten (