BMCR 2010.06.24

Music in the Odes of Horace

, Music in the Odes of Horace. Oxford: Aris and Phillips, 2010. 208. ISBN 9780856688447. $80.00.

Stuart Lyons ist während der Arbeit an seiner Versübersetzung der horazischen Oden ( The Fleeting Years, 1996) auf deren Musikalität aufmerksam geworden und hat in Horace’s Odes and the Mystery of Do-Re-Mi (2007) die These vertreten, Horaz sei ein “songwriter” gewesen, der seine Lyrik selbst aufgeführt habe.1 Dafür hat er mit der mittelalterlichen Horazrezeption argumentiert, von der aus er eine Traditionslinie zurück zur antiken Aufführungspraxis zog. Inzwischen geht er vorsichtiger vor: “They [die mittelalterlichen Handschriften] may or may not have bearing on the performance of the Odes in the Augustan Age” (178).

Als Reaktion auf die damaligen gemischten Reaktionen ist Music in the Odes of Horace entstanden, an Antikeforscher und Musikhistoriker gerichtet, um die Skeptiker aus akademischen Kreisen und vor allem die neue Generation der Philologen zu überzeugen, verstärkt die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass “the Horace of the Odes was a musician, songwriter and entertainer, and that his carmina were the songs he claimed them to be” (180). Damit will er gegen die vorherrschende Auffassung anschreiben, dass die musikalische Terminologie des Horaz einen als Topos übernommenen Reflex der frühgriechischen Lyrik darstellt. Doch ob ihm das gelingt, ist fraglich: Denn letztlich bleibt es in Sachen primäre Darbietungsart eine Grundsatzentscheidung, die keine noch so gewissenhafte Untersuchung beeinflussen kann, da wir nur im Falle des carmen saeculare einen eindeutigen Beleg für dessen Aufführung haben.

Das Buch ist zweigeteilt: Kapitel 1 und 2 befassen sich mit der Frage, wie Horaz’ Oden dem antiken Publikum präsentiert wurden. Der zweite Teil (Kapitel 4 und 5) beschäftigt sich mit der musikalischen Rezeption der Oden im frühen Mittelalter anhand ausgewählter Kodizes mit Musiknotation. Ziel ist es, die musikalischen Elemente der horazischen carmina herauszustellen und für eine mündliche—und zwar grösstenteils musikalische—Darbietung als deren primäre Präsentationsform zu plädieren. Die Ergebnisse beider Teile verknüpft Lyons diesmal weniger kategorisch-fordernd miteinander als noch vor wenigen Jahren, und er tut gut daran (wenngleich die Kombination allein einen gewissen Zusammenhang suggeriert).

Die beiden Hauptfragen: “Bezeichnen carmina Gedichte oder Lieder?” und “Meinen modi Rhythmus oder Musik?” beantwortet Lyons also jeweils zugunsten der letzteren Möglichkeit. Dafür führt er im ersten Teil textexterne soziokulturelle Argumente (Kapitel 1: “Musical Performance in the Age of Horace”) und textinterne Hinweise aus den Oden selbst ins Feld (Kapitel 2: “Internal Evidence of Musical Performance”).

Im ersten Kapitel skizziert er sehr kurz die Rolle der Musik im frühen Griechenland und die Auswirkungen der hellenistischen Akkulturation Roms mit speziellem Blick auf musikalische Inhalte in Kallimachos und Theokrit (17-28); er vergleicht das griechische Symposium mit dem römischen convivium (28-33); er diskutiert die musikalischen Elemente in Catulls Hochzeitsgedichten c. 61 und 63 und in c. 64, die eine mündliche Aufführung nahelegten, sowie die der Eklogen Vergils (33-40), bevor er schliesslich zu Horaz gelangt (41-48). Dabei stützt er sich auf dessen eigene Aussagen (Epist. 2,2, und 1,19) sowie auf Hinweise bei Ovid (Trist. 4,15,49 f.: et tenuit nostras numerosus Horatius aures / dum ferit Ausonia carmina culta lyra) und Juvenal (Sat. 7,53-65). Lyons hält das sog. Auditorium des Maecenas, von dem er zwei farbige Photographien bietet (197), für einen der wesentlichen Vorführungsorte, an denen Horaz seine Oden darbrachte (“It seems to confirm the orality of presentation, and implies musical production without proving it.” 48).

Diesen textexternen Hinweisen—die zum Teil eben doch textintern sind, insofern sie Dichtungen anderer Autoren entnommen sind und es daher ebenfalls diskutabel bleibt, ob die Aussagen dieser Dichter nicht auch nur Metaphern sind—folgt im zweiten Kapitel eine ausführlichere Untersuchung von Horaz’ Oden unter folgenden Gesichtspunkten: (1) Horaz als Pindarnachfolger und die Oden auf berühmte Männer in der Tradition frühgriechischer epinicia (55-62). Im Zusammenhang mit den im vierten Buch an Augustus gerichteten Oden (c. 4,4; 4,5; 4,14 und 4,15) führt Lyons eine Suetonstelle an, die er zu einem Argument für carmen als ‘Lied’ macht. Da Sueton in einem Satz zweimal carmen verwendet, einmal auf das Säkularlied bezogen ( saeculare carmen componendum), das zweifelsfrei musikalisch dargeboten wurde, das andere Mal im Hinblick auf die ersten drei Odenbücher ( tribus carminum libris), sei anzunehmen, dass zumindest c. 4,14 (Sueton erwähnt den Sieg von Tiberius und Drusus) und wohl auch die Bücher 1 bis 3 gesungen worden seien.2 Das ist nicht zwingend, da carmen sowohl gesprochene als auch musikalische Darbietung umfasst und diese Polyvalenz durchaus innerhalb ein und desselben Satzes behalten kann.

In (2) “Hymns, Prayers and Dirges” (62-70) arbeitet Lyons den sozio-religiösen Hintergrund einiger Oden heraus und verknüpft diesen sogleich mit einem passenden Anlass für eine Erstaufführung. So könne c. 1,10, die Hymne an Merkur, von Horaz als Mercurialis auf einem Symposium dargebracht worden sein; der Lyriker habe vielleicht c. 3,18 an den Faunalia am 5. Dezember auf seinem Sabinum rezitiert oder gesungen; c. 1,21, das Lyons in engem Zusammenhang mit c. 1,31 für die Einweihung des Apollotempels am 9. Oktober 28 v. Chr. interpretiert wissen will, wirke erst, wenn man sich den Hymnus als einen gemischten Chor vorstelle, der in Anwesenheit Oktavians einem grossen Publikum präsentiert wurde etc. Das mag alles sein, doch man wird nie genau wissen, wie weit die Anlassgebundenheit einiger Oden deren primäre Aufführung widerspiegelt oder diese eben nur imaginiert. Dass Lyons bisweilen keine Unterscheidung zwischen Horaz und dessen persona unternimmt und somit in eine biographistische Interpretationsfalle zu geraten droht, zeigt sich besonders bei der Diskussion um Horaz’ religiöser Einstellung(etwa “Horace himself sacrifes a pig to Diana […]” 67). Ob man also vieles wörtlich nehmen will und somit auch Passagen wie nec turpem senectam / degere nec cithara carentem (c. 1,31,19 f.) oder Romanae fidicen lyrae (4,3,23) und verba loquor socianda chordis (4,9,4), hängt davon ab, was man als Reflex der Wirklichkeit oder als literarische Stilisierung ansieht. Diese generelle Einschränkung gilt auch für den Rest des zweiten Kapitels.

Lyons spricht vorsichtigerweise oft von der Möglichkeit (“possibility”) musikalischer Aufführungen, obgleich man deutlich spürt, dass er von dieser Darbietungsart überzeugt ist. Evident wird dies im Unterkapitel zu den sympotischen Oden (3) (70-79), die besonders viele musikalische Bilder enthalten. Im Zusammenhang mit dem dramatisch ausgerichteten c. 1,27 etwa spricht er von der “natural interpretation” (74), dass es für eine live performance angelegt sei; c. 3,9 “is certainly a duet. There are two distinct voices, those of Horace and Lydia” (77); c. 1,32 enthalte mit lusimus tecum (v.2) keine metaphorische, sondern “a physical reference to the playing of a stringed instrument” (78). Gerade mit dieser Ode will Lyons die Vertreter der Gegenmeinung als voreingenommen entlarven und schliesst das Unterkapitel fast trotzig mit dem Satz: “Perhaps Horace should be allowed to speak for himself” (79).

Es folgt ein Abschnitt zu (4) ” Horatius vates” (79-83), in dem Lyons wie in den vorangegangenen vorgeht. Dennoch wird er trotz der Wiederholung der Argumentation die Skeptiker nicht überzeugen. Auf Aussagen wie “Here, as elsewhere in the odes, Horace refers to the actual tools of music: the lyre, the barbitos, the cithara and the plectrum, the modes, the melody, the rhythm and the song” (81) kann man entgegnen, dass damit noch nichts über die reale Aufführungssituation gesagt sei; “[t]he second person plural used by Horace in auditis (‘you hear’) implies that there is a live audience” (ebd.) wird die Antwort provozieren, dass dies eine Stelle wie viele innerhalb der lateinischen Dichtung sei, an denen eine dialogische Situation lediglich imaginiert wird.

Die folgenden Unterkapitel (5) ” Numerosus Horatius” (83-87) und (6) ” Carmina and Modi” (6) (87-90) bereiten das Resümée des ersten Teils (90-92) vor. Lyons spricht sich im Hinblick auf den Grossteil der Oden nicht nur für eine mündliche, sondern für eine musikalische Darbietung aus, die durchaus verschiedene Formen gehabt haben könne (für Chor, Frauenstimme oder für den Dichter selbst, 91).

Das die beiden Hauptteile verbindende kurze “Intermezzo” (93-99) versammelt einige Zeugnisse zu mündlicher Aufführung von Dichtung im Allgemeinen während der Kaiserzeit und im frühen christlichen Europa, wo sich die Überlieferungsspuren von Horaz verlieren.

Der zweite Hauptteil bietet eine sorgsam aufgearbeitete Untersuchung musikalisch annotierter Horaz-Handschriften aus dem frühen Mittelalter, die mit zahlreichen Umschriften in moderne Notenform und Abbildungen gut präsentiert werden. Die Handschrift H425 aus Montpellier (M425) in aquitanischen Neumen behandelt Lyons besonders ausführlich. Wie schon 2007 [BMCR 2008.07.19 ] vollzieht er gewissenhaft nach, wie Guido von Arezzo (11. Jh.) eine Melodie, die sich in M425 zu der horazischen Ode an Phyllis (c. 4,11, Est mihi nonum) findet, auf den Johannes-Hymnus Ut queant laxis anwendet und so die Solmisation, eine auf vier Linien im Terzabstand basierende Musiknotation, erfindet, die er später in der Epistola Guidonis Michaeli monacho de ignoto cantu directa erläutert. Lyons kommt zu dem Ergebnis, dass Guido und der Kantor, der M 425 schrieb, wohl unabhängig voneinander auf die in Guidos Brief erwähnte notissima symphonia zurückgriffen, die mündlich tradiert worden und, aufgrund der Orientierung der Melodie an der horazischen Ode, auf einen paganen Ursprung zurückzuführen sei. In Rückbezug auf den ersten Teil resümiert Lyons bedachtsam: “M 425 does not inform the debate on Horace’s own musicianship” (131).

Im fünften Kapitel stellt Lyons zwei weitere musikalischen Notationen in mittelalterlichen Horazhandschriften vor, auch in diesem Fall mit reichlich Anschauungsmaterial (insgesamt enthält das Buch 62 Abbildungen, 12 davon in Farbe). Die Interpretation der Pariser Handschrift PA7979 (138-151), die neun Horaz-Oden mit Neumen enthält, deutet auf einen Schulgebrauch hin, gerade für die Oden aus dem dritten Buch (3,9; 3,12; 3,13), während die anderen sechs auch für andere Zwecke geeignet scheinen. Besonders die populäre Ode 1,33 Albi, ne doleas (diese und c. 4,11 gibt Lyons im Appendix in englischer Versübersetzung) weise darauf hin, dass sie zur unterhaltenden Aufführung genutzt wurde und dass sich die Melodien der Handschrift PA7979 aus verschiedenen Ursprüngen speisen. Eine deutlich stärkere Ausrichtung hin zu musikalischer Darbietung ausserhalb des schulischen Rahmens verrät die musikalische Notation des Petersburger Manuskripts PET4 in zentralfranzösischen Neumen (153-175). Das Arrangement legt nahe, so Lyons, dass hier auf eine breite Materialbasis mit verschiedenen Ursprüngen zurückgegriffen werden konnte, die über das Netz des Benediktinerordens hinaus auch durch mündliche säkulare Tradition gespeist worden sei. “The music reflected and recorded a tradition of performance art” (175). Man könne von einer Art Gesangsbuch in klösterlichen Rahmen ausgehen.

In der Zusammenfassung (176-180) schliesst Lyons den Kreis: Der zweite Teil habe gezeigt, dass die horazischen carmina im Frühmittelalter als Lieder aufgefasst wurden, was noch nichts über die antike Darbietungsform aussage.—Hier kann man uneingeschränkt zustimmen.—Im ersten Teil habe er jedoch gezeigt, dass “Horace’s objective in the Odes was to produce a unique type of performance art, a Latin re-interpretation of Greek lyric song” (180). Freilich ist es richtig, dass weder Vergil noch Varius noch Tibull sich als Musiker darstellen (179), doch die textinternen Hinweise in Horaz’ Oden kann man, muss man aber nicht im Sinne Lyons auslegen. Rossi, der nach einer rhythmischen Analyse der carmina gewichtige Argumente anführt, dass sie mit Ausnahme des carmen saeculare nicht gesungen, sondern rezitiert wurden (“metrique verbale”), dessen Beitrag Lyons aber nicht anführt,3 schreibt im Hinblick auf die Präsenz musikalisch-instrumentalischen Vokabulars: “La sua è musica, per così dire, letteraria. Quanto più greci sono il suo lessico e la sua cultura musicale, tanto più sospetto dovrebbe apparire il loro eventuale valore referenziale nei confronti di una realtà romana.”4

In diesem Fall bleibt es jedem Leser selbst überlassen, ob er der Auffassung Lyons oder den Skeptikern folgen mag.

Stellenverzeichnis, Bibliographie, ein kurzer Sachindex, ein Index zu den neumierten Handschriften und deren Ort sowie ein Personenindex runden das aufwendig gestaltete und gut geschriebene Buch ab, das im ersten Teil zwar keine neuen philologischen Erkenntnisse zu den Horazoden bietet, sondern lediglich bekannte Indizien für Mündlichkeit und Musikalität zusammenstellt, das im zweiten Teil den Literaturwissenschaftler aber gekonnt über die musikalische Horazrezeption zu unterrichten versteht.

Notes

1. Lyons 2007, 22 f.: “Horace is not just a poet but a songwriter” und “was regularly involved in some form of theatrical performance”.

2. “It follows that the tres carminum libri (‘three books of songs’) may also have been the songs they claim to be” (62).

3. Rossi, L. E., “Orazio, un lirico greco senza musica”, in: Seminari Romani di Cultura Greca I, 1 (1998), 163-181. Des Weiteren hätte L. auch v. Albrecht, M., “Musik und Dichtung bei Horaz”, in: Bimillenario della morte di Q. Orazio Flacco, Atti dei convegni I, Venosa 1993, 75-100, und Martin, R., “Horace in Real Time: Odes 1.27 and its Congeners”, in: Paschalis, M. (Hg.), Horace and Greek Lyrik Poetry (Rethymnon Classical Studies 1), Kreta 2002, 103-118, berücksichtigen können.

4. Rossi (s. Anm. 3), 170.