BMCR 2009.08.30

Homer. Ilias; Homers Heimat

, , Homer. Ilias. München: Carl Hanser Verlag, 2008. xl, 630 pages. ISBN 9783446230460.
, Homers Heimat: der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe. München: Carl Hanser Verlag, 2008. 426 pages. ISBN 9783446230231.

[Der vorliegende Text ist eine Kurzfassung. Die vollständige Fassung (68 S.) kann abgerufen werden unter Rezension-Schrott-Homer.]

“Die Übersetzung eines griechischen Gedichtes kann nur ein Philologe machen. Wohlmeinende Dilettanten versuchen es immer wieder, aber bei unzureichender Sprachkenntnis kann nur Unzureichendes herauskommen” (Wilamowitz).1

Schrotts Ilias -“Übertragung” zerfällt in drei Hauptteile: Teil I: “Zur Ilias /Zu dieser Fassung” (p. V-XL) — Teil II: “Übertragung” der Ilias, gerahmt von Inhaltsangaben der Kypria und der Aithiopis : p. 1-523 — Teil III: “Anhang” (p. 525-621) und “Inhalt” (p. 623-631). — Wir betrachten zunächst kurz Teil I und Teil III, um uns danach auf das Kernstück, die sogenannte “Übertragung”, zu konzentrieren. Bewusst nicht vermieden sind Bezugnahmen auf Schrotts vorangegangene Monographie Homers Heimat, in der eine im deutschsprachigen Raum während des ganzen Jahres 2008 zu z.T. sensationell aufgemachten Feuilleton-Ehren gelangte, auch in der vorliegenden “Übertragung” zugrunde gelegte [p. V-XXIX] absurde Entstehungshypothese der Ilias, die sogenannte ‘Kilikien-These’, aufgestellt wird. Deren Kernpunkt ist die ‘Entdeckung’, das ‘wahre’ Troia der uns vorliegenden Ilias sei nicht das an den Dardanellen im Nordwesten der heutigen Türkei von Calvert/Schliemann ausgegrabene und dann seit 1988 unter der Leitung von M.Korfmann, seit 2006 unter derjenigen von E.Pernicka (beide Universitaet Tuebingen) in grossem Rahmen international und interdisziplinaer weiter erforschte Areal (heute: Hisarlik), sondern das 800 km Luftlinie entfernte, im Süden der Türkei im Binnenland gelegene Káratepe (‘Schwarzberg’, spät-hethitisch Azatiwada) und das 100 km Luftlinie davon entfernt im Südwesten zum Meer hin um das spät-hetithische Adanija (heute die Millionenstadt Adana) gelegene Areal im später ‘Kilikien’ (hethitisch: Kizzuwatna; assyrisch: Hillaku) genannten Gebiet; Homer, der seine kilikische Heimat mit ihrer Zeitgeschichte in die alte Troia-Sage hinein”projiziert” (so auch Ilias p. xi), also gewissermassen Azatiwada (Káratepe) ins Dardanellen-Troia hineingeschmuggelt habe, sei ein griechischer Schreiber und Eunuch in einer auf dem heutigen Káratepe gelegenen assyrischen Residenz-Kanzlei gewesen, der — mit Ortskenntnissen der Troas ausgestattet — seine Epen unter Verwertung des alten Troia-Sagenstoffes vornehmlich aus orientalischen Quellen, wie dem Gilgamesch-Epos, aus diversen orientalischen Erzählungen und Dokumenten sowie aus zeitgeschichtlichen assyrischen Ereignisabläufen kompiliert habe. Aufgebaut wird diese bewundernswert phantasievolle These auf der Annahme, die Insel Zypern sei Namensgeberin der ‘Zypriotischen Geschichten’ (so versteht Schrott fälschlich Kypria), und mit diesen sei die ganze Troia-Geschichte in das Zypern gegenüberliegende Kilikien gelangt (“Homers Heimat” p. 84-93). Diese Spekulation lässt sich mit einem einzigen Satz erledigen: Nach uralter Vermutung erhielten die Kyprien ihren Titel (der lediglich ‘Kyprisches’ bedeutet) von jemandem, der die Dominanz der auf Zypern geborenen Kypris = Aphrodite im Kausalgefüge dieses nachhomerischen Epos erkannt hat;2 Zypern hat also — ebenso wie Kilikien — mit dem Troia-Stoff gar nichts zu tun. Gegen diese ganze Kilikien-Phantasterei ist von Fachwissenschaftlern in den deutschsprachigen Medien von Skepsis bis zur Verhöhnung bereits ausgiebig protestiert worden. In der vorliegenden Besprechung der Ilias -“Übertragung” wird dieser Protest u.a. durch eine bislang gänzlich unbeachtet gebliebene (naturkundliche) Ebene der Gegenargumentation ergänzt.

Zu Teil I: Dieser separat paginierte Teil (p. V-XL) des Buches könnte als ‘Einführung’ bezeichnet werden. Er ist zweigeteilt: Der erste Unterabschnitt (1: p. V-XXX) gibt Schrotts Ilias -Konzeption wieder, der zweite (2: p. XXXI-XL) legt Rechenschaft über seine ‘Übertragungs’-Methode ab. — Zu (1): Die vorgelegte Ilias -Konzeption ist aus meist unverstandenen Forschungsfragmenten und eigenen Phantasien zusammengebastelt und dementsprechend völlig abstrus (die Ilias sei um 660 entstanden und stelle eine ‘Einwebung’ zwischen den beiden “bunten Erzählteppichen” der “zypriotischen Erzählungen” und der Aithiopis dar, in welcher der “judäisch-kilikische Aufstand gegen die Assyrer um 700” thematisiert werde [V]; Homer habe sich “des troianischen Sagenstoffes bedient, um die Konflikte zwischen Kilikern und ihren assyrischen Machthabern aufarbeiten zu können” [XXV]; der Name ‘Homeros’ sei eine “levantinische Bezeichnung für eine Sängergilde — bene homerim“, und die Herkunft dieses Namens lasse sich dank einer spätantik überlieferten nordsyrischen Stadt namens [H]Omeros “geographisch fixieren” [VIII]; der kilikische Homer gebe Helenas Entführer Alexandros den Beinamen Paris, um damit auf den kilikischen “Herrschersitz Pahri” zu verweisen [XII], usw.). Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung damit ist ebenso unmöglich wie überflüssig; Laien, die das Buch gutgläubig erwerben, werden nicht in die gegenwärtige Homer-Forschung eingeführt, sondern in eine Phantasiewelt entrückt.

Zu (2): Was Schrott hier auf zehn Seiten zu seiner Fassung sagt, besteht aus radikalem Homer-Verriss und arroganter Selbstbespiegelung: “die für Homer typische unbeholfene Ausdrucksweise subjektive Denkprozesse betreffend”; Homers Formulierungen sind “zu umständlich, statt knapp und direkt”; “die Phrasen bleiben schemenhaft und blass”: XXXVI; Homers Übersetzer von Voss bis Hampe haben nur Homer-“Travestien” zustandegebracht: XXXIf.; Schrott hingegen “versucht […] Homer von seinem Ufer abzuholen, um ihn ins Heute zu bringen”: XXXIII; die vorliegende Fassung “adaptiert die homerische Diktion in einem modernen Duktus, der vom hohen Ton bis zum lakonisch Hingeworfenen und Derben eine weitaus grössere Ausdrucksweise umfasst”. Alles in allem: Homer war ein Stümper, seine Übersetzer desgleichen, und es bedurfte eines Schrott, um Homer zum Dichter und sein Werk mittels vorliegender “Übertragung” zu Dichtung zu machen. Die Ursache der Naivität, die hinter diesem ‘Ins-Heute-Bringen-Wollen’ steht, ist das kardinale Unverständnis für die Dimension des Geschichtlichen in Kunst und Kultur überhaupt. Schrotts “Übertragung” gerät folgerichtig zur Karikatur.

Zu Teil II (“Übertragung”; p. 1-523): Erwarten würde man hier eigentlich nur die Übersetzung der Ilias. Schrott lässt dieser aber eine ‘Inhaltsangabe’ der Kypria vorausgehen und eine solche der Aithiopis folgen (beide habe er aus Proklos, Apollodorus[!], Athenaeus[!], aus “dem”[!] Pindar-Scholiasten und “dem”[!] Ilias -Scholiasten “kollationiert” [p. 11; 523; gemeint: ‘kombiniert’]). Diese Einbettung in die Troia-Gesamtgeschichte ist für den nicht-professionellen Leser durchaus nützlich (die Zuweisung einzelner Erzählungsbestandteile an bestimmte Bücher der beiden Epen ist freilich Phantasie). Dann aber sollte diesem Leser das Verhältnis zwischen Ilias und den Epen des ‘Epischen Kyklos’ auch erklärt werden. Stattdessen versorgt Schrott den Leser mit Fehlinformationen: Homer “schiebt” seine Geschichte nicht “zwischen den Kypria und der Aithiopis ein” (p. VIII), sondern Kypria und Aithiopis sind nachhomerische Ergänzungsprodukte, die durch Versifikation der vorhomerischen mündlichen Troia-Gesamtgeschichte die vor- bzw. nach-iliadischen Ereignisse nachtragen. Statt diese Nachträge aber nun wenigstens vollständig zu präsentieren ([Aithiopis], Kleine Ilias, Iliupersis, Nostoi, [ Odyssee ], Telegonia), hört Schrott mit der Aithiopis auf. Dem Leser bleibt dadurch vieles unverständlich (z.B. p. 6 die nie zuvor erwähnten “Eide” [Apollodor 3,132; Epit. 3,6]), oder er wird weiterhin ungenau informiert: “[…] und vom Troianischen Pferd und dem Fall Ilios’ berichtet erst die Odyssee“: p. VII (vom Pferd berichtete bereits der Stoff der Kleinen Ilias, von Troias Fall derjenige der Iliupersis; die Odyssee enthält nur einen Rückblick: 8,492-520).

Bevor wir zur Ilias -“Übertragung” kommen, rasch noch ein paar Bemerkungen zuTeil III (“Anhang”, p. 525-631). Geboten wird hier als Kernstück ein fast 90seitiger Kommentar zur “Übertragung” aus der Feder des Grazer Althistorikers Peter Mauritsch (p. 527-616), dazu eine Zusammenstellung der “Figuren der Ilias” (p. 617-621; die Götter fehlen[!]) und eine neunseitige Inhaltsangabe der Ilias. — Die Haupttendenz des Kommentars liegt erstaunlicherweise darin, dass er Schrotts “Übertragung” ständig am griechischen Original ‘korrigiert’, sich also kontraproduktiv zu seinem ‘Auftraggeber’ (Schrott hatte Mauritsch mit der Erarbeitung des Kommentars beauftragt, s. Impressum p. 2) verhält. Offenbar halten ‘Überträger’ und Verlag die Publikation einer “Übertragung” und deren permanente Widerlegung in ein und demselben Buch für besonders originell. Statt dieses Undings hätte Schrott Mauritschs Richtigstellungen von vornherein übernehmen und dem Kommentar lediglich Sacherklärungen u.dgl. überlassen sollen. Wo Mauritsch solche gibt, sind sie dann allerdings nicht immer zuverlässig (z.B. 2,715: Gatte der Alkestis ist Admetos, nicht Pelias); an manchen Stellen vermisst man sie überhaupt (z.B. 7,468 zu Iason, Euneos, Hypsipyle); zudem fehlen Qüllenangaben zu wörtlichen Zitaten (z.B. 7,141; 17,210). Im Übrigen enthält Mauritschs Kommentar dieselben Untugenden wie die “Übertragung” seines Landsmannes Schrott: Er ist durchsetzt mit Austriazismen und Verstössen gegen die deutsche Grammatik und Interpunktion sowie übersät mit Druckfehlern [umfangreiche Belegsammlung in der Langfassung].

Damit kommen wir zum Kern des Buches, zur Ilias -“Übertragung” (p. 13-517). Als erstes (bezeichnendes) Beispiel sei das (erweiterte) Proömium, Ilias 1,1-10 vorgeführt, zunächst in der flüssig lesbaren Übersetzung Schadewaldts:

“Den Zorn singe, Göttin, des Peleus-Sohns Achilleus,
Den verderblichen, der zehntausend Schmerzen über die Achaier brachte
Und viele kraftvolle Seelen dem Hades vorwarf
Von Helden, sie selbst aber zur Beute schuf den Hunden
(5) Und den Vögeln zum Mahl, und es erfüllte sich des Zeus Ratschluss —
Von da beginnend, wo sich zuerst im Streit entzweiten
Der Atreus-Sohn, der Herr der Männer, und der göttliche Achilleus.
Wer von den Göttern brachte sie aneinander, im Streit zu kämpfen?
Der Sohn der Leto und des Zeus. Denn der, dem Könige zürnend,
(10) Erregte eine Krankheit im Heer, eine schlimme, und es starben die Völker [gemeint: Leute].”

Dasselbe in Schrotts ‘Übertragung (Schrotts unübersichtliche Vers-Numerierung in 25er-Abständen ist durch pentadische Verszählung, die Längenzeichen durch Akut ersetzt):

ménin áeide, theá, peleiádeo achiléos
ouloménen, hé myrí’ achaioís álge’ étheken
von der bitternis sing, göttin — von achilleús, dem sohn des peleús
seinem verfluchten groll, der den griechen unsägliches leid brachte
und die seelen zahlloser krieger hinab in das haus des hades sandte
die blutvollen leben dann nur noch fleisch an dem die hunde frassen
(5) den vögeln ein festmahl — und wie zeus’ wille sich dadurch erfüllte …
sing, muse, und beginn mit dem moment wo der göttliche achilleús
sich in einem streit mit seinem kriegsherrn agamemnon entzweite.
doch welcher der götter hatte sie gegeneinander aufgehetzt?
es war apollon, zeus’ sohn mit leto: vor lauter ärger über agamemnon
(10) hatte er im lager eine pest ausbrechen lassen die das heer dahinraffte;

Als dekuvrierendes Motto für Schrotts ‘Übertragungs’-Art sei programmatisch der erste Satz von “Homers Heimat” vorangestellt (p. 11):

“Die Ilias umfasst 15693 Hexameter; um sie ins Deutsche zu übertragen, wälzt man Kommentare, Wörterbücher und Studien zu den einzelnen Stellen und vergleicht die vielen Übersetzungen anderer, um auf den Sinn der Zeilen zu kommen und stimmige deutsche Sätze für sie zu finden.”

Was ist denn nun der von Schrott offenbar vor allem aus den “vielen Übersetzungen anderer” erschlossene “Sinn” zumindest der ersten beiden “Zeilen”? Im griechischen Original ist er klar: Der anonyme Sänger fordert die Göttin (Muse) auf, den verderbenbringenden Groll des Peleus-Sohnes Achilleus zu singen.

Bei Schrott dagegen ist der Sinn für jeden Normalleser unverständlich:

(1) Zunächst versteht man: Eine Göttin soll von “der bitternis” singen. Frage: von was für einer Bitternis?

(2) Auf Klärung hoffend liest man weiter: “von achilleús, dem sohn des peleús”. Frage: In welchem Zusammenhang steht diese Angabe zu der “bitternis”?

Antwort: Offensichtlich in gar keinem. Das “von der bitternis” bleibt ungeklärt in der Luft hängen, und es wird statt einer Klärung ein zweiter Sangesgegenstand angekündigt: “von achilleús, dem sohn des peleús”. Die Göttin soll also (a) von einer Bitternis singen, (b) von Achilleus.

(3) Dann aber liest man — aufgrund fehlender Interpunktion am Vers-Ende fliessend in “Zeile” 2 hinübergeleitet —: “seinem verfluchten groll”. Frage: wessen verfluchtem Groll? Stünde hinter “peleús” Komma oder Doppelpunkt, könnte man “seinem verfluchten groll” als erklärende Apposition zu ‘achilleús’ bitternis’ verstehen. Das würde bedeuten: Die Bitternis (des Achilleus) soll erklärend nuanciert werden durch ein zweites Gefühlswort: ‘Groll’.

(4) Es steht aber keine interpunktionelle Lesehilfe hinter V. 1. Also wird der Leser im Unklaren darueber gelassen, (a) von wessen Groll hier die Rede ist: von dem des Achilleus oder von dem des Peleus? (b) was der “groll” mit der “bitternis” zu tun hat.

Es ist anzunehmen, dass Schrott das so nicht gemeint hat. Aber er verhindert diese Unverstaendlichkeit nicht. Er sieht nicht, wie verständnisbehindernd, ja sinnvernichtend seine fehlende bzw. unkonventionelle, offenbar als “Poesie”-Signal gedachte Interpunktion wirkt. Das Ergebnis ist katastrophal: Die “Übertragung” schon des monumentalen ersten Ilias -Verses ist gänzlich missglückt. Dass sie Homer sprachlich unsäglich verschandelt, ist schon schlimm genug. Viel schlimmer aber noch: Sie lässt den Leser das vom Dichter gemeinte Thema gar nicht erst erkennen, zumal das Thema-Wort (menin, “Groll”), das erste Wort der europäischen Literatur überhaupt, verflachend seiner Wucht beraubt wird durch das semantisch inadäquate “bitternis” (erst in V. 2 folgt nachklappernd das im Original donnerkeilartig herniederfahrende Anfangswort “groll”; zu dessen emotionalem Bedeutungskern s. Basler Kommentar I 2, p. 12f.); der Eröffnungs-Paukenschlag des Originals — ‘GROLL singe, Göttin, (den Groll) des Peleus-Sohnes ACHILLEUS!’ — wird zerhackt (“von der bitternis sing, göttin — von achilleús, dem sohn des peleús / seinem verfluchten groll”) und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Im Text steht kein alltags-griechisches ade moi, o thea, peri tes tou Achilleos menidos, sondern hier ist ein Gestaltungswille am Werk, der eine bewusste Erhöhung vom Banalen ins Hochpoetische bewirkt.

Schrotts Deutschlernversuche allein (s. unten) erklaeren das nicht. Anhand des ersten von 15693 Ilias -Versen wäre damit das Urteil über diese Art von “Übertragung” im Grundsatz schon gesprochen. Diese Basis wäre freilich allzu schmal. Wir fahren also fort, konzentrieren uns jedoch auf Prinzipielles.

(1) Verkennung der Autonomie des Originals

Die “göttin” (V.1) wird bei Schrott zur (im Original nicht vorhandenen) “muse” (V.6); die “Achaier” zu beliebigen “griechen” (V.2); der “Atride” (V.7) zu “agamemnon”; “Letos und Zeus’ Sohn” (V.9) zu “es war apollon, zeus’ sohn mit leto”, und der “König” (V.9) wieder zu “agamemnon”. Diese explizit modernisierende Belehrungs-Intention — Schrotts erklärtes Arbeitsprinzip3 — ist Homer natürlich fremd und daher für etwas, was “Übertragung” sein will, einfach falsch: Für Belehrung bzw. Erklärung hat die alexandrinische Philologie bereits im 3.Jh.v.Chr. ja gerade die Kommentare (Hypomnemata) erfunden; der Zweck dieser Erfindung ist es, den Wortlaut des Originaltextes in seiner Authentizität belassen zu können (implizit ja auch hier so: Wozu sonst Mauritschs “Kommentar”?). Vermischung von Originaltext und Kommentar bedeutet Tod des Originals. Da ein Literaturwissenschaftler diese Elementarfakten eines literaturwissenschaftlichen Grundstudiums kennen dürfte, bleibt nur die Erklärung, dass er sie unter dem Vorwand, “das Original möglichst fussnotenfrei zugänglich” machen zu wollen (p. XXXIV) einfach vom Tisch wischt.

(2) Pointen-Verkennung

(a) Bei Schrott “sandte” der Groll “die seelen zahlloser krieger” zum Hades, und “die blutvollen leben” sind dann “nur noch fleisch an dem die hunde frassen” (V.3/4). Die Pointe des Originals ist damit verkannt: Der Groll “sandte viele Leben [nicht “Seelen”; psyché bedeutet bei Homer nie ‘Seele’] von Helden [nicht einfach ‘Kriegern’] zum Hades”, “sie selbst aber [nämlich die (toten) Helden, also die Leichname, nicht “die blutvollen leben”] machte er zum Frass für Hunde”. Der Gegensatz ‘Das Lebendige geht zum Hades, zurück bleibt das Tote’ (ein Glaubensdogma, an das nicht nur Platon anknüpfen wird) bleibt unerkannt. — (b) V.7 (“der Atride, der Herr der Männer, und der vortreffliche Achilleus“) ist im Original planvoll als monumental-geschlossene Einheit mit ‘sprechendem’ Chiasmus gestaltet und macht damit die polare Ent-Zweiung der beiden Protagonisten im wahrsten Wortsinn ‘augenfällig’. Schrott ‘überträgt’, auf zwei Verse aufgeteilt und unter Vertauschung der Reihenfolge beider Namen: “wo der göttliche achilleús / sich in einem streit mit seinem kriegsherrn agamemnon entzweite”. Dass der Dichter hier den Graben zwischen diesen beiden Männern, also den Grundkonflikt des Werks, mit Worten ‘malt’ — diesseits steht der Atride, jenseits Achilleus —: Schrott sieht es nicht. Poetisches Gespuer sucht man hier vergebens.

Vielleicht klärt uns eine seiner Spielereien auf: In seine “Übertragung” streut er ca. 110 Mal zwei (2,484-487 sogar vier) aus dem Original in lateinische Schrift — oft fehlerhaft — transkribierte Verse ein. Verteilungsprinzip, Zweck und Sinn dieser Arabesken lassen sich (trotz p. XL: “Das Druckbild der Zitate ist symbolisch zu verstehen”[?]) nicht erkennen. Soll etwa Kenntnis der griechischen Buchstaben und damit der griechischen Sprache vorgetäuscht werden? Falls dies zutrifft, ist der Versuch gründlich misslungen: Die (unkorrigiert gebliebene) Fehlerhaftigkeit zeigt genau das Gegenteil des Beabsichtigten: dass wirkliche Griechischkenntnis nicht vorliegen kann. Damit ist die Ursache für Schrotts Unverständnis der Homerischen Poesie gefunden: Ohne gründlichste Kenntnis der Originalsprache kann eine adäquate Übersetzung eines Textes aus irgendeiner Sprache nie zustandekommen.

(3) Verkennung der Epitheta-Funktion

In seiner ‘Einleitung’ (p. XXXVIIf.) stellt Schrott die von den Alexandrinern vorbereitete, von der modernen Forschung (Gottfried Hermann, Milman Parry) als richtig erwiesene Erkenntnis, wonach die Homerischen Epitheta — als altes Erbgut aus der improvisatorischen Mündlichkeitsphase — zumeist Lückenfüller sind, wieder auf den Kopf. Sie seien im Gegenteil “kontextgebunden” und “dynamisch”. An der folgenden Passage (1,565-583, Streit Zeus/Hera) lässt sich zeigen, zu welchen Verkrampfungen die Umsetzung dieses Fehlverständnisses führt. Darüber hinaus enthüllen sich an diesem Textstück auch alle weiteren Untugenden der Schrottschen”Übertragung”. Wir setzen zwecks Platzersparnis die Schadewaldtsche Übersetzung voraus und zitieren gleich Schrott:

(565) “bleib nur still sitzen auf deinem thron und tu, was ich dir sag;
ich warne dich: die andren götter werden dir keine hilfe sein;
muss ich denn wirklich erst aufstehen und dir ein paar langen?
da weiteten sich heras augen nun, diesmal aber vor angst;
sie biss sich auf die zunge, ihre ellenbogen weiss am sessel —
(570) und die himmelsgötter waren wie vor den kopf geschlagen.
einzig der für seine geschicktheit bekannte héphaistos ergriff
das wort und kam seiner mutter hera gedankenschnell zu hilfe:
e dé loígia érga tad’ éssetai, oud<‘> et’ anektá
ei dé sphó héneka thneton eridaíneton hode
was für ein schwarzer tag! nicht auszuhalten dass ihr euch
wie zwei dohlen streitet, bloss wegen ein paar sterblicher –
(575) und alles in einen ehekrieg ausartet dass einem beim essen
der appetit vergeht vor dem, was da jetzt in der luft liegt …
der mutter werde ich gut zureden – sie weiss es ja am besten
dass sie zu unsrem vater nett sein muss, damit er nicht wieder
in seine schimpfereien ausbricht und uns dieses fest verdirbt.
(580) denn hat ers wirklich drauf angelegt, unser blitzeschleuderer
haut er uns von unseren hockern – der ist ja weit stärker als wir.
nein — sei lieber nett zu ihm und schmier ihm honig ums maul:
du wirst sehen, bald ist er wieder unser grundgütiger alter zeus!”

Vorweg einige Formalien. Zur Marotte der Kleinschreibung nur dies: sie erschwert permanent das Verständnis und stellt dadurch ein radikales Abschreckungsmittel dar, besonders in Verbindung mit Schrotts rudimentärer Interpunktion (s. oben). Dass Schrott durch weitgehende Ignorierung ausgerechnet dieser Verständnishilfe seine eigene Intention, Homer “ins Heute zu bringen” (p. XXXIII; s. oben), eklatant konterkariert, merkt er offensichtlich nicht [weitere Belege s. in der Langfassung]. — Ein sehr grosses und geschmackloses Lesehindernis bilden Elisions-Exzesse, die über das seit Homer selbst rhythmusbedingt Übliche (hier: “ich … sag”: 565) hinausgehen. In unserem Textstück beginnt das mit “ers” (580) und weitet sich an anderen Stellen der “Übertragung” aus zu Monstrositäten wie: “aufn schultern” (2,259), “ergriff … wieders wort” (2,433), “ers nest” (12,222), “bis sies müde sind” (18,281), “nochs werkzeug” (18,409), “dass einems herz” (19,229), “erst wenns schicksal” (20,336), “ausm” (21,492), “ihms” (21,551). Möglicherweise würde Schrott das mit seiner “flexiblen Rhythmik” begründen, “die jedoch weder ungebunden noch frei ist” (p. XXXV). Der Rez. vermag allerdings in Schrotts “Übertragung” weder von einer ‘ungebundenen’ noch ‘freien flexiblen Rhythmik’ noch von einem ‘freien Vers’ etwas zu erkennen. Rhythmus ist aber eine der Grundkonstituenten antiker Dichtung. Seine Ignorierung in einer “Übertragung” antiker Dichtungen bedeutet daher letztlich eine die Original-Intention des Dichters eliminierende Entpoetisierung.

Vor der Behandlung der Epitheta und Formeln noch eine generelle Bemerkung zum Ton, den Schrott bei der Wiedergabe dieser — im Original bei allem Übermut die Grenzen wahrenden — Szene anschlägt: eine unsägliche Trivialisierung bzw. Infantilisierung der Diktion, die sich dann fortsetzen wird und die — zumal in ihrer Vulgarisierung (s. unten) — über 24 Bücher hinweg nur schwer auszuhalten ist: “muss ich denn wirklich … dir ein paar langen”, “alles in einen ehekrieg ausartet dass einem beim essen der appetit vergeht”, “haut er uns von unseren hockern” und “schmier ihm honig ums maul”; dazu eine — im wahrsten Sinne — hemdsärmelige, stil-unangemessene ‘Jovialisierung’: “zu unsrem vater”, “unser blitzeschleuderer”, “unser grundgütiger alter zeus”. Das ist nicht Homerischer Olymp, sondern Schrottsche Wohnküche.

Nun zu den Epitheta bzw. Formeln:

Im Text-Zitat erscheinen zwei typische Standard-Epitheta:4 das generische (d.h. nicht nur auf eine bestimmte Person bezügliche), in der zeitgenössischen Kunst als ‘grossäugig’ gedeutete Schönheits-Epitheton Heras, boopis (568; “kuhäugig” Schadewaldt), sowie das distinktive, nur auf den Schmiedegott Hephaistos angewandte klytotechnes (571; “der kunstberühmte”, Schadewaldt). Hier nur zum ersten: Schrott ‘überträgt’ es 568 mit “da weiteten sich heras augen nun, diesmal aber vor angst” und kommentiert p. XXXVII: “In der überwiegenden Anzahl der Fälle zeigt sich, dass Homer sie [die Epitheta] kontextbezogen verwendet. […] Staucht Zeus seine Gattin Hera zusammen, indem er sie das erste Mal [1,551] aus der Fassung bringt, ihr beim zweiten Mal [1,568] aber […] Angst einjagt, heisst es jedesmal stereotyp: ‘und die kuhäugige Hera erwiderte ihm’ ” (Das ist falsch! Homer sagt in 1,568 ausdrücklich: ‘So sprach er. Und in Furcht geriet die grossäugige Herrin Hera’; von ‘erwidern’ ist hier gerade nicht die Rede; Schrott versteht seinen Selbstwiderspruch nicht.) “Auf die Situation bezogen erhält dieses starre Bild jedoch jedesmal einen anderen Gesichtsausdruck: zuerst macht sie ihm noch ungläubig grosse Augen; dann weiten sich diese vor Angst.” — Und in 20,309 z.B. ist dieselbe boopis Hera bei Schrott “kalten augs”. — In dieser Manier geht die Auflösung stehender Epitheta in Situationsbezogenheit weiter [Belegsammlung in der Langfassung].

Zu welchen willkürlichen Auswüchsen das führt, zeigen Beispiele wie die folgenden: 2,230 werden aus den ‘pferdebändigenden Troern’ bei Schrott in Thersites’ Munde “diese reichen troianischen rosstäuscher”; 2,278 wird der zur Rede ansetzende ‘Städtezerstörer Odysseus’ zeugmatisch amplifiziert zu “odysseus, der nicht nur eine stadt / sondern auch sein publikum einzunehmen wusste”; 3,305 lässt Schrott Priamos, der “nach Ilios, der winddurchwehten” zurückkehren will, sich entschuldigen mit “der wind weht um ilios. ich kehre in mein haus zurück”. Und seine “Übertragung” “dickbauchige” für das stehende Schiffs-Epitheton glaphyrai‘gewölbte’ begründet Schrott unfreiwillig komisch damit, dass vorher die Zeugung der beiden Admiräle durch Ares geschildert war, der heimlich ihre Mutter geschwängert hatte (2,511-516) …

Nicht immer reicht allerdings Schrotts Phantasie für eine extravagante Deutung aus: Der ‘fussschnelle’ Achilleus, der bei ihm je nach ‘Kontext’ auch “geistesgegenwärtig” (9,196), “gewandt” (9,307), “geistesschnell” (23,193) oder “schnell von begriff” (24,559) sein kann (denn das — so Schrotts ‘Entdeckung’ — ist das, was Homer eigentlich mit seinem unbeholfen-stereotypen ‘fussschnell’ meint), geht in 1,364 seines Standard-Epithetons sang- und klanglos verlustig: “und achilleús, wie er so auf dem strand hockte, sagte heiser”.

Die vorhomerische mündliche Improvisationsdichtung hatte nicht nur die Wiederholung von Epitheta, sondern auch diejenige von Einzelversen und sogar ganzen ‘typischen Szenen’ (wie Ankleiden und Rüsten, Ankunft und Begrüssung etc.) zwecks Improvisationserleichterung erzwungen. Gleichsam eine Zwischenstellung zwischen Iterat-Versen und typischen Szenen bilden wiederholte, auch aus Pflanzen- und Tierleben entlehnte Gleichnisse. Diese machen nun ausdrücklich einen der zwölf Punkte aus, auf die Schrott seine abwegige Kilikien-These gründet, “Homers Heimat” p. 13: “[1.] Als Heimat Homers lässt sich das griechische Festland oder die Westküste Kleinasiens ausscheiden […] — [4.] Aussagekräftig sind auch die Landschaftsbeschreibungen der homerischen Gleichnisse. Sie stimmen in ihren agrarischen und geographischen Spezifika alle mit Kilikien und kaum je mit der Troas überein”. Tatsächlich? Ein zweimal vorkommendes Gleichnis aus dem botanischen Bereich, in dem der Schlachtentod von Kriegern mit dem Niederstürzen eines Baumes parallelisiert wird, Ilias 13,389-393=16,482-486, lautet (zunächst in der Übersetzung des Rez.):

und er stürzte, wie wenn eine Traubeneiche ( drys) stürzt oder Zitterpappel ( acherois)
oder Schwarzkiefer ( pitys), eine emporragende, die in den Bergen Zimmermänner
herausschlugen mit Äxten, neugeschliffenen, auf dass sie ein Schiffsbalken sei:
So lag er vor den Pferden und dem Wagen hingestreckt,
brüllend, in den Staub verkrallt, den blutigen.

13,389-393 in Schrotts “Übertragung” (Kursivierungen des Rez.):

“asios kippte um wie eine eiche, weisspappel oder hohe kiefer
die die zimmermänner am berg mit scharfen beilen füllen [lies: fällen]
um aus dem stamm dann schiffsbalken herauszuarbeiten –
so röchelte er vor dem wagen und seinen schönen pferden
sein leben aus, beide hände in den blutigen staub gekrallt.”

16,482-486 in Schrotts “Übertragung”:

“und sarpedon krachte um wie eine pappel, eine eiche
oder hohe fichte, die zimmerleute mit scharfen äxten
am berg umhauen um schiffsbohlen draus zu machen:
so fiel sarpedon vor seinem wagen der länge nach hin
seine finger in den blutroten staub gekrallt — röchelnd /.”

Über die Unterschiedlichkeit der “Übertragung” trotz der im Original identischen Semantik, Stilistik und Syntax der beiden Stellen sehen wir jetzt einmal hinweg. Wir konzentrieren uns auf das Sachliche, in diesem Fall Naturwissenschaftliche (Botanische).5 Die Dreiheit Traubeneiche (drys, Quercus petraea subsp. iberica) — Zitterpappel/Espe (acherois, Populus tremula) — Schwarzkiefer (pitys, Pinus nigra subsp. pallasiana) wird beim ersten Mal nicht nur ohne nötige botanische Spezifizierung (denn mit der phegos, Quercus trojana, Troia-Eiche, kennt Homer eine weitere Eichenart), sondern auch falsch wiedergegeben (“eiche — weisspappel — kiefer”): statt lebendiger Feldforschung wohl totes Lexikon-Wissen.6 In der zweiten Passage (“pappel – eiche – fichte”) sind nicht nur die beiden Anfangsglieder ohne Grund vertauscht, sondern an dritter Stelle erscheint plötzlich mit “fichte” (Picea) sogar ein Baum, den es nicht nur in Griechenland gar nicht gibt, wie schon das Fehlen einer (alt-)griechischen Bezeichnung zeigt (vgl. ngr. kókkino élato): Auch in der Troas, erst recht in Kilikien war die Fichte als typisch nordischer, höchstens bis Bulgarien (Rhodope-Gebirge) zu findender Baum gänzlich unbekannt! Dagegen mutiert die bei Homer in Westanatolien nur im Idagebirge vorkommende Tanne (elate) bei Schrott zur “kiefer” (14,287; vgl. 5,559)! [Weiteres in der Langfassung, besonders im ‘Kritischen Anhang’].

(4) Verkennung der Stilhöhe

Oben war schon von der “unsäglichen Trivialisierung, Infantilisierung bzw. Vulgarisierung der Diktion” die Rede. Zu begründen versucht hatte Schrott diesen Stil in den “Sieben Prämissen einer neuen Übersetzung der Ilias” unter dem Stichwort “Dekorum” folgendermassen:7

“bei all dem (scil. “Jammern und Lügen der Menschen” bzw. “voyeuristischen Zynismus der Götter”) wahrt das Original jedoch sein Dekorum […] Insofern drückt sich in diesem Dekorum die Zensur und Selbstzensur jeder höfischen Standesdichtung aus. Heute unerheblich geworden, benennt diese Fassung deshalb dort, wo nur umschrieben und angedeutet wird, das eigentlich Implizierte etwas deutlicher. […] Sie (scil. Schrotts Wortwahl) akzentuiert nur genauer <,> als es Dekorum und Formelsprache zugelassen hätten.”

Ausgerechnet der altertumswissenschaftliche Dilettant Schrott will also “das eigentlich Implizierte”, das die professionelle Homer-Philologie seit den Bemühungen der antiken Homer-Gelehrten, also seit etwa 2500 Jahren, herauszuarbeiten versucht, im Handstreich definitiv erkannt haben, um es dann genauer zu akzentuieren”! Eine solche Überheblichkeit ist schon wieder bewundernswert. Für Schrotts “etwas deutlichere Benennung des eigentlich Implizierten” hier ein paar Beispiele:

Droht Odysseus in 2,262 dem Thersites die Wegnahme von “Mantel und Hemd und was deine Scham umhüllt” an, legt Schrott dem Herrscher von Ithaka Gossensprache in den Mund: “den mantel, das hemd und den fetzen über den eiern”. — Sagt Achill über Agamemnon in 9,377: “denn den Verstand hat ihm genommen der ratsinnende Zeus”, heisst es bei Schrott “dem hat doch zeus ins hirn geschissen!” — Sagt Menelaos in 17,19 zu Euphorbos: “Zeus, Vater, nicht schön ist es, sich übermässig zu rühmen”, wird daraus bei Schrott: “bei zeus – was bist du doch ein arrogantes arschloch!” [weitere Beispiele in der Langfassung].

Diese infantile Anal- bzw. Fäkalsprache wird noch gesteigert durch einen altmännerhaft-lüsternen Sexualslang:

3,447f.: “während sich die beiden (Paris/Helena) liebten, dass die bettpfosten wackelten” (Homer: “Die beiden nun betteten sich auf dem gurtdurchzogenen Lager”). — 9,336f.: “soll er sie doch vögeln / und mit ihr glücklich sein” (Homer: “bei der liegend / er sich ergötzen soll”). — 14,313-315, Zeus zu Hera[!]: “geh doch später; / und lieber mit mir jetzt ins bett – auch wir haben ja schon / ewig nicht …” (Homer: “wir beide aber, wohlan, wollen uns, in Liebe gelagert, ergötzen”). — 14,324, Zeus zu Hera[!]: “und nicht einmal bei […] alkmene […] stand er mir so” (Homer: “auch nicht Alkmene (hat solches Verlangen in mir geweckt”). — 15,32, Zeus zu Hera[!]: “haben dich etwa die götter geschickt, damit du mit mir bumst?” (Homer: “damit du siehst, ob dir hilft Liebe und Bett, / auf dem du dich mit mir vereinigt hast, von den Göttern kommend”).

Schrotts Rechtfertigung für diese Vulgarisierung der Homerischen Dezenz arbeitet mit Vorstellungen über griechische Literatur, die naive Selbstprojektion, und über ihre Rezeption, die — nach eigenem Eingeständnis — “Spekulation” sind (Replik [wie n.7] p. 474):

“wäre der Text wirklich so grillparzerisch getragen<,> wie ihn uns die Übersetzungen bisher präsentiert haben, kein Mensch hätte sich 24 Stück solcher Gesänge angehört. Das[s] dazu auch Drastik und Verstoss gegen das Dekorum gehören, scheint mir offensichtlich […] Sexuelle Motivik und Anlass für Obszönität gibt’s ja auch noch in der Textform des Epos, die wir haben, mehr als genug.”

Falls es Obszönität bei Homer tatsächlich gäbe — es gibt sie aber nicht —: Glaubt Schrott allen Ernstes, dass dann erst er hätte kommen müssen, um sie bewusst zu machen? Ist Schrotts geradezu begeistert vorgetragene gossensprachliche Diktion nicht vielmehr eine jeder Subtilität bare Geschmacksverirrung — und dies bei jemandem, der sich selbst als Poesie-Experten und “Dichter” bezeichnet?

Mittelbar hierher gehört auch die Sucht nach Erzielung platter Pointen: (1) geschmack- und stillose Kalauer (1,122: “hochherrscherlicher argeier, du habgierigster geier von allen”; auch gereimt, 11,365: “mach ich dich halt beim nächsten mal kalt”); (2) Sucht nach zeugmatischer Ausdrucksweise (11,676f.: “seine hinterwäldler nahmen / die beine in die hand und wir ihnen die ochsen ab”); (3) Literatur- und Bibel-Zitate, die es in der ersten europäischen Dichtung naturgemäss nicht geben kann (1,285: “agamemnon der hörte es wohl – doch es fehlte ihm der glaube”); (4) Anachronismen (2,380: “das letzte stündlein hat dann geschlagen” [vor Erfindung der Uhr!]); (5) die Kulturdifferenz nivellierende Fremdwörter (10,321-327: “explorieren, adjudizieren, penetrieren, deliberieren”); (6) Austriazismen (9,940: “angetrenzt” [‘besudelt’]; 14,457: “hatschen” [‘hinken’]; 23,782: “die göttin da hat mich ums haxel gehauen” [Homer: ‘mir die Füsse beschädigt’]). — Stilhöhe setzt als Grundbedingungen voraus: souveräne Beherrschung der Muttersprachengrammatik, Nuancensensibilität, Gespür für das treffende Wort. Homer war in alledem Vorbild für die griechische Literalität. Schrott bleibt auch dahinter meilenweit zurück: mangelnde Grammatizität der deutschen Sprache (Appositionen im falschen Kasus, “brauchen” ohne “zu”, falsche Konjunktive, falsche Rektionen; besonders hässlich die ‘absoluten Partizipien im Nominativ’, Muster 1,470: “der hunger gestillt, kamen die knaben mit den mischkrügen”). — (Die ungezählten Druckfehler runden das Bild passend ab; seitenweise Belege für alles Genannte in der Langfassung).

Des Rätsels Lösung? In einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk; ausgestrahlt am 13.3.2006; damals sass Schrott an seiner “Übertragung”) antwortet Schrott auf die Frage “Wie viele Sprachen sprechen Sie? Wie viele Dialekte beherrschen Sie?”:

“Tja, als Tiroler versuche ich ja immer noch das Schriftdeutsche zu lernen, obwohl es immer heisst, wir würden[!] kein Hochdeutsch können. […] Ich bin also ohne Koketterie immer noch dabei, Deutsch zu lernen, d.h. das ganze Repertoire der Sprache, ihre ganzen Stilregister zu beherrschen, um sie einsetzen zu können.”

Was hier offenbar wird, stimmt fast schon wieder heiter: Wir haben eine “Übertragung” aus dem Homerischen Altgriechisch ins Neuhochdeutsche vor uns, deren Verfasser weder das Homerische Altgriechisch noch das Neuhochdeutsche wirklich beherrscht — ein in der neueren Geschichte der deutschen Homer-Übersetzung einzigartiges Kuriosum.

Wir fassen zusammen: In Schrotts opus liegt weder eine Übersetzung noch eine Übertragung vor. Die korrekte Bezeichnung hätte zu lauten: ‘Freie Nachdichtung auf der Grundlage vorliegender professioneller Übersetzungen’. Nach eigenem Eingeständnis (“Griechisch und Latein hatten wir noch als Freifächer oder gar als Pflichtfächer am Gymnasium”: so Schrott in dem oben genannten Interview mit dem Bayerischen Rundfunk) kann Schrott ja auch tatsächlich kaum Altgriechisch und demnach erst recht kein Homerisches Griechisch — worin aus der hier vertretenen wissenschaftlichen Sicht ja denn auch der eigentliche Skandal liegt, nicht nur auf Seiten des Autors, sondern auch auf Seiten des Verlages und dessen williger Abnehmer, von den Printmedien, Fernseh- und Rundfunksendern, Veranstaltern von Lesungen usw. bis hin zur ‘Wissenschaftlichen Buchgesellschaft’. Nach einem in Mode gekommenen amerikanischen Verfahren scheinen hier eine oder mehrere vorliegende Übersetzungen8 unter dem Mantel der ‘Modernisierung/Aktualisierung’ sprachlich aufgepeppt und mit eigenen Zutaten zu einem Flickwerk vereinigt worden zu sein. Insofern ist die Etikettierung auf dem Titelblatt “Übertragen von Raoul Schrott” eine Mogelpackung. Insofern ist aber auch die Tätigkeit des Rezensenten eigentlich sinnlos, da sie keine ernstzunehmende Grundlage hat: Es kann im geläufigen Sinne nicht etwas “Übertragung” genannt werden, was nicht durch einen intimen Kenner der Sprache und des kulturellen Kontextes des Originals unter Wahrung der historischen Bedingtheit dieses Originals mit Geschmack und Augenmass von seinem Originalort an einen anderen ‘getragen’ wurde (‘Translation’). Wer weder über ein Griechisch- noch sonst ein altertumswissenschaftliches Fachstudium verfügt, mag allerlei ‘zusammentragen’ und miteinander ‘vergleichen’ ( comparare) — was der Berufsbezeichnung Schrotts als ‘Komparatist’ zwar entspricht, ihr aber plötzlich einen ganz anderen, delikaten Sinn gibt … —:Übersetzer ist er deswegen noch nicht. Mehr noch: Schrott will offenbar als erster deutschsprachiger wissenschaftlicher Übersetzer in der Geschichte des Homer-Übersetzens gelten: “Eine kanonische wissenschaftliche Übersetzung, die den vollständigen semantischen Gehalt von Homers Ilias auf deutsch präsentiert, liegt bis heute nicht vor; selbst noch die Übertragung von Schadewaldt beschneidet wahre Texttreue ” (p. XXXI). Mit anderen Worten: ,Die erste wissenschaftlich wahre Texttreue — hier liegt sie vor!’ Diese masslose Selbstüberhebung zwingt die Wissenschaft zu einer deutlichen Antwort!

Notes

1. U.v. Wilamowitz-Möllendorff: “Was ist übersetzen?” (1891), in: Reden und Vorträge, 4. Aufl., Berlin 1925/ND 1967, (p. 1-36) p. 1f.

2. J. Perizonius, Cl. Aeliani […] varia historia, Leiden 1701, zu VH 9,15, s. J. Latacz: “Kypria”, DNP 6, Sp. 983f.

3. p. XXXIV: “Diese Fassung schreibt deshalb gewissermassen als Metaversion mit, was wir jetzt[!] über den Text und seine Hintergründe wissen.”

4. Siehe Basler Kommentar, hg. von J. Latacz, Prolegomena (p. 159-171: “Homerische Poetik in Stichwörtern”) p. 162 s.v. “Epitheton”; distinktiv wie ‘fussschnell’ (= Achill), im Gegensatz zu ‘generisch’ (s. ‘kuh-/grossäugig’) wie im Rufen gut’ (= Diomedes, Menelaos etc.).

5. Siehe Bernhard Herzhoff: “Phegos”, Hermes 118, 1990, p. 257-272; “Der Flusskatalog der Ilias (M 20-23) — ältestes literarisches Beispiel geometrischer Raumerfassung?” In: Antike Naturwissenschaften und ihre Rezeption 18, 2008, (p. 101-138), p. 108 n.26.

6. Siehe LSJ s.v. ἀχερωίς : “white poplar”, daraus Janko zu 16,482. — Die in Griechenland/Anatolien in tieferen Lagen häufige Weisspappel (Populus alba) heisst leúke.

7. Akzente 3/2006, (p. 193-218), p. 198; ebd. 4/2006, p. 357-383: J. Latacz: “Homer übersetzen. Zu Raoul Schrotts neuer Ilias -Fassung”; ebd. 5/2006, p. 466-479: R. Schrott: “Replik auf den Kommentar von Joachim Latacz in Heft 4.

8. Auf Stephen Mitchells (*1943) Wikipedia-Seite ist zu lesen: “Languages that he had not translated from, but rather put together interpretive versions from existing translations into Western languages include Chinese […], Sanskrit […], Akkadian or ancient Babylonian (Gilgamesh).”