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Wie werden Mythen zum Gegenstand von Wissenschaft? Diese Frage ist nicht neu, doch immer wieder aktuell. Masciadri unternimmt in seiner Habilitationsschrift den Versuch, ausgehend von Lévi-Strauss strukturalistische Lesarten wiederzubeleben und weiterzuentwickeln (S. 17), um den Gegensatz zwischen vergleichender und historischer Mythenanalyse zu überwinden.
Im Zentrum der Untersuchungen stehen drei mit der nordägäischen Insel Lemnos verbundene Mythen: erstens derjenige von Philoktet, wie er von einem Schlangenbiss verwundet wird, zweitens derjenige von Hypsipyle und den lemnischen Frauen, die ihre Männer töten, sowie drittens derjenige vom Himmelssturz des Hephaistos. Während das erste Kapitel am Beispiel der mit Melampus verbundenen Geschichten die methodische Herangehensweise erläutert (“Statt einer Einführung: Melampus und die Sprache der Tiere”, S. 17-37), widmen sich die Hauptkapitel jeweils einem der drei Mythenkreise (“Der verwundete Philoktet”, S. 38-111; “Die Stadt der Frauen”, S. 112-258; “Der hinkende Gott”, S. 259-353). Ein Methodenkapitel beschliesst die Ausführungen (“Statt eines Nachworts: Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie”, S. 354-377).
Im kleinen wie im grossen erweist sich Masciadri als Ästhet, der seinen Stoff gestaltet. Dies zeigt sich nicht nur in seiner schon an den epischen Überschriften ablesbaren, dem Gegenstand kongenialen und seinem Vornamen ,Virgilio’ Ehre machenden Ausdrucksweise, sondern auch im Aufbau des Buches bzw. der Kapitel: So wie ein Methodenkapitel, das keines sein will (S. 354), erst am Ende des Buches zu finden ist, geht er bei der Entwicklung seines Ansatzes induktiv vor, indem er am Beispiel des Melampus vorführt, was er zu Beginn des Philoktet-Kapitels konzeptionell erläutert: Nach allgemeinen Betrachtungen zur Bedeutung von Schlangen in der altgriechischen Kultur wendet er sich Melampus zu, der seine Sehergabe von Schlangen erhalten haben soll, nachdem er eine getötete Schlange begraben und deren Junge aufgezogen hatte. Letztere sollen ihm die Ohren ausgeleckt und damit die Seherkunst eingehaucht haben (Hes. F 261): von diesem Zeitpunkt an habe Melampus die Sprache der Tiere, z.B. den Vogelgesang, verstanden. Indem Masciadri von dieser, in verschiedenen Versionen präsentierten Geschichte ausgeht, zieht er Parallelen zu anderen Mythen, in denen Schlangen eine Rolle spielen, z.B. demjenigen des Laokoon. Anschliessend kennzeichnet er die Motive des Mythos mit Buchstaben, nummeriert sie durch und markiert Varianten durch ergänzende Zeichen, bis er das allen Geschichten gemeinsame Motiv herausdestilliert, den “Wechsel von einer schlechteren zu einer besseren Sprache” (S. 31), und es deutet: In diesem Mythos gehe es um Sprachentstehung, wobei die Schlange das “kontinuierliche Wesen schlechthin” (S. 32) verkörpere, für das “ungegliederte Lautkontinuum” (S. 33) stehe, der Vogelgesang dagegen für artikulierte, verständliche Sprache. Als Kreuzpunkt zwischen beiden Welten gelte das Ohr als Hörorgan bzw. die Zunge als dasjenige des Sprechens. Letztlich liege hier ein Bild vor, wie es die Linguistik ähnlich konzipiere, “wo auf der untersten Ebene der Sprache der Übergang vom phonetischen Kontinuum zur distinkten Reihe der Phoneme überhaupt als der Punkt betrachtet wird, an dem die Sprache als solche sichtbar wird.” (S. 33) Schon hier ergibt sich die Frage, ob die anthropologische Dimension der Deutungen mit einer historischen Betrachtungsweise in Konflikt geraten könnte, dann nämlich, wenn Parallelen zu einem der Gegenwart verpflichteten Verständnishorizont eine Einbettung in den historischen Kontext vermissen lassen.
Dabei spricht sich Masciadri dezidiert dagegen aus, z.B. die Schlange als universal gültiges Symbol zu betrachten, pocht vielmehr auf den Ausgang einzelner Geschichten, die mit ähnlichen Sagen verglichen werden müssten (S. 22). Unter Kontextualisierung versteht er jedoch weniger eine Einbettung in die lebensweltlichen Umstände, unter denen Mythen erzählt und variiert wurden, als die Herausarbeitung latenter Bezüge zwischen verschiedenen mythischen Erzählungen: “Ein einzelnes Fragment genügt offensichtlich, um auch unter völlig veränderten äusseren Umständen den ganzen Zusammenhang wieder hervorzubringen, dem es einst angehörte. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint der Mythos weniger als Inventar von überlieferten Erzählungen denn als eine Verkettung von Begriffskategorien, so dass es genügt, eine einzelne von ihnen aufzurufen, um das ganze System in Aktion treten zu lassen.” (S. 36-37)
Diesem Mythenverständnis entspricht seine Analysemethode, die sich — zurecht — von älteren Herangehensweisen absetzt, nämlich entweder aus verschiedenen Versionen eine alle Elemente enthaltende Erzählung zu konstruieren oder nach einer Urfassung zu fahnden. Stattdessen müssten die Zeugnisse zunächst für sich sprechen, ohne bereits synthetisierend bzw. rekonstruierend einzugreifen (S. 44). Folglich beginnen seine Untersuchungen zu jedem Mythenkreis mit einer (chronologischen) Ausbreitung der Quellen, die ausführlich zitiert und paraphrasiert werden, bevor in einem zweiten Schritt Mythenelemente beziffert, seriell in Tabellen erfasst und miteinander verglichen werden, bis ein gemeinsamer Kern der Varianten destilliert und ein Überlieferungsstemma der Versionen erstellt werden kann (vgl. S. 65-71). Masciadri möchte “Überlieferungshistoriker” (S. 71) sein, der Entwicklung nicht fälschlich aus einer chronologischen Anordnung des Überlieferungsbefundes ableitet, sondern aus einer Ordnung, die sich am Erzählverlauf orientiert, um zu erkennen, dass die Verwandlungen einer Sage einer “inneren Logik” (S. 65) folgen. Der Variantenstammbaum soll als Hilfskonstruktion in einem dritten Schritt zum Verständnis beitragen, wie sich Erzählungen im wechselseitigen Gebrauch durch Schöpfer und Benutzer ausprägten (S. 71), also eine historisch-anthropologische Deutung ermöglichen.
Ist ihm die Einlösung seines Anspruchs, einen “historischen Strukturalismus” als Neuansatz zu etablieren (S. 369-377), der sich wissenschaftsgeschichtlich sowohl von einer rein historischen als auch einer rein vergleichenden Mythologie absetzt und ihren Gegensatz auf einer höheren Ebene aufhebt, gelungen? Einerseits möchte er einen Kontrapunkt zur “postmodernen, wohligen Schlamperei” (S. 354) setzen, indem er der ob der Vielzahl an Möglichkeiten verlockenden Beliebigkeit bei Mythosdefinitionen einen aus der Wissenschaftsgeschichte begründeten Neuansatz gegenüberstellt. Andererseits versteht er seine Ausführungen lediglich als Vorarbeiten zu einer wissenschaftlichen Mythologie und verweigert sich aus diesem Grunde definitorischer Klarheit (S. 363), obwohl seinen Ausführungen ein dezidiertes Mythenverständnis zugrunde liegt. Seine als Offenheit deklarierte Scheu, sich begrifflich und interpretatorisch festzulegen, ist wissenschaftlich insofern ehrenhaft, als man jenseits ,exakter’ Wissenschaften keine eindeutigen Ergebnisse zeitigen wird. Die Kehrseite besteht in einem über weite Strecken positivistischen Zugriff, der Zeugnisse in einem ersten Schritt aus sich selbst heraus sprechen lassen möchte, sie also seitenlang zitiert. Auch die von philologischer Akribie und grosser Belesenheit zeugenden Kontrastierungen der Mythenvarianten und -versionen können, zumindest aus der Sicht eines Historikers, lediglich als Vorarbeit angesehen werden. Der Gegensatz von “Struktur” und “Geschichte” wird erst dann aufgehoben, wenn die scharfsinnig, linguistisch kunstvoll analysierten Mythen-Morpheme in ihren Zusammenhängen gedeutet werden. Das weiss Masciadri, aber sein Erkenntisideal ist der Sprachwissenschaft verhaftet, der die ,Willkür’ historischer Deutungen gegenübergestellt wird (S. 376).
Die alte These, dass Lemnos ein Ort von Mythen sei, die der griechischen Sagen- und Vorstellungswelt fremd sei (S. 18), widerlegt Masciadri durch die Aufdeckung vielfältiger Bezüge zu verwandten griechischen und vorderorientalischen Sagenkreisen. Einem sozialhistorisch Interessierten dürfte diese Erkenntnis als Ergebnis der ausführlichen Studien jedoch nicht genügen: Auch wenn die Bedeutung der Orte, lemnischer Geschichte, archäologischer Befunde und der problematische Zusammenhang von Mythos und Ritual erläutert werden, stehen die Ausführungen gleichsam exkursartig neben Masciadris Kerngeschäft, der mythengrammatischen Überlieferungshistorie. Sein Analysevokabular entlehnt er der Musiktheorie, spricht von “Umkehrungen” und “Krebsen” und trifft damit einmal mehr sprachlich ins Schwarze, erlebte die serielle Musik als Weiterentwicklung der Zwölftonmusik doch nicht zufällig ihre Blüte, als sich die Ansätze von Lévi-Strauss und Saussure auf den Gebieten der Anthropologie bzw. Linguistik durchsetzten. Mit Anton Webern, einem der Protagonisten der Zwölftonmusik, sollte man jedoch bedenken, dass alle Kompositions- und Analysemethoden lediglich Hilfsmittel sind, dass es letztlich darauf ankommt, was im Ohr des Hörers erklingt. So schwer dies in Bezug auf antike Rezeptionsphänomene, wenn überhaupt, zu bewerkstelligen ist, zumindest Historiker verlangen nach einer lebensweltlichen Kontextualisierung von Mythen, die über das hier vorgestellte Modell hinausreicht. Solche Leser lässt Masciadri im Meer der Geschichten ein wenig ratlos zurück.
Table of contents
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen
Karten
1. Statt einer Einführung: Melampus und die Sprache der Tiere (S. 17-37)
1.1. Auszüge aus einem Logbuch
1.2. Melampus und die Sprache der Tiere
1.2.1. Das sinnreiche Reptil
1.2.2. Le dénicheur de serpents
1.2.3. Plus ultra
2. Der verwundete Philoktet (S. 38-111)
2.1.1. Iphilklos’ Neffe
2.2. Ein zerbrochener Spiegel – Die Überlieferung
2.2.1. Dreimal Tragödie
2.2.2. Spuren im Unterholz
2.2.3. Mythographischer Nachsommer
2.2.4. Die Letzten und die Ersten
2.2.5. Gemalter Schmerz
2.3. Elfmal Philoktet
2.3.1. Handschriften
2.3.2. Von Schlangen und Mäusen
a) Philoktet auf Tenedos
b) Apollon Smintheus
c) Dareios und die Skythen
2.3.3. Ein Literat
2.3.4. Rückkehr der Tragiker
a) Euripides
b) Und Aischylos?
c) Sophokles
d) Theodektes
2.3.5. Hereinbrechende Ränder
2.3.6. Philoktets italienische Reise
3. Die Stadt der Frauen (S. 112-258)
3.1. Von fremden Ländern und Menschen
3.1.1. The isles of Greece, the isles of Greece!
3.1.2. Der Erdtaucher
a) De Chryse insula
b)
c) De generatione et corruptione insularum
3.1.3. La segnano le carte antiche dei corsari
3.1.4. Schatten von gestern
3.1.5. An heiliger Stätte
a) Artemis, Athene, Hephaistos und Hermes, Herakles und Philoktet
b) Die Grosse Göttin Lemnos
3.2. Kuriose Geschichten
3.2.1. Eine Mythologie
3.3. Lemnisches Unheil
3.3.1. Der Klassiker
3.3.2. Spuren und Bruchstücke
a) Epos und Lyrik
b) Das attische Theater
c) Euripides
d) Geschichtsschreiber und Verwandtes
3.3.3. Echoräume
a) Familienbande
b) Das Parfum
c) Römische Erzähler
3.4. Hypsipyle und ihre Schwestern
3.4.1. Zweimal Hypsipyle
3.4.2. La belle dame sans merci
3.4.3. Götter, Helden und Kisten
3.4.4. Von Müttern und Sprachen
3.4.5. Die Töchter des Danaos
3.4.6. Vor Sonnenaufgang
3.5. Frauenliebe und Leben
3.5.1. Lesarten
3.5.2. Folgerungen
3.5.3. Querlesen
4. Der hinkende Gott (S. 259-353)
4.1. Wer den wucht’gen Hammer schwingt
4.1.1. Ein Fremder im eigenen Haus
4.1.2. Zwischen Himmel und Amboss
4.1.3. Alle Räder stehen still
4.2. Der heilende Gott
4.2.1. Lemnische Erde
a) Aus dunklem Altertum
b) Licht aus der Neuzeit?
4.2.2. Der geheilte Philoktet
4.3. Die kleinen Leute
4.3.1. Thrakisches Eisen
4.3.2. Vom bösen Blick
4.3.3. Die Nächte des Kabirions
4.3.4. Die ungleichen Schwestern
a) Samothrake
b) Imbros
5. Statt eines Nachworts: Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Mythologie (S. 354-377)
5.1.1. Imagines maiorum
5.1.2. Das mythologische Feld
5.1.3. Etwas über das Vergleichen
6. Anhang (S. 378-412)
6.1. Register
6.1.1. Textnachweise der Mythenvarianten
6.1.2. Philologica
6.2. Bibliographie