BMCR 2009.03.27

Grundlagen der griechischen Pflanzendarstellung

, Grundlagen der griechischen Pflanzendarstellung. Paderborn: Schöningh, 2005. 108, ills. ISBN 9783506728975. €28.90 (pb).

Mit dem Hinweis auf die poetische Schilderung der natürlichen Umgebung der Grotte der Nymphe Kalypso der Odyssee (5,63ff.), die äusserst präzise und anschauliche Angaben über Pflanzen enthält, wirft der Autor erneut die Frage auf, ob und warum den Griechen für die darstellende Kunst nach moderner Meinung das Auge für die Natur und besonders die Pflanzenwelt fehlte. Kann es sein, dass sich das starke ästhetische und praktische Interesse der auf das 5. und 4. Jahrhundert zurückgehenden Lehren der “wissenschaftlichen Botanik” gar nicht in den Werken der bildenden Kunst niedergeschlagen hat? Wie sind manche “Ungereimtheiten” zu erklären, die viele Pflanzendarstellungen rätselhaft, ja befremdlich erscheinen lassen? Beispiel: die ganz “abwegige” züngelnde Bewegung der Getreidehalme in der Hand des Triptolemos auf schwarzfigurigen Vasenbildern, die das Hauptmerkmal des Vorbildes, nämlich “gerade, starr und knotig” zu sein, verleugnen. Oder die scheinbare Verzerrung der natürlichen Form der Fichte des Räubers Sinis auf einer rotfigurigen Schale, mit geknicktem Stamm und langen schlängelnd bewegten Zweigen, die an Schlingpflanzen erinnern. Es geht dem Autor darum zu zeigen, dass sich hier alles andere als Naturfremdheit zu erkennen gibt, vielmehr ein für uns fremder Umgang mit dem Vorbild in der bildlichen Darstellung des Natürlichen, wobei “realistische Wiedergabe nur einen Teilaspekt eines Ganzen ausmacht, das als idealer Archetypus wirksam bleibt”.

Diese frühgriechische Sehweise zeichnet sich in ihrer Grundlage bereits in der geometrischen Epoche ab. Der Autor hat sie bereits 1968 in einer ersten theoretischen Arbeit auf der Suche nach dem Realitätscharakter des geometrischen Ornaments erforscht.1 Dabei zeigte sich das merkwürdige Phänomen, dass Ornamente volle Gegenständlichkeit erlangen können, indem sie Gegenständliches charakterisieren. Im Figurenbild können Muster, die sonst scheinbar rein ornamental und ungegenständlich verwendet werden, ganz konkret Stoffliches charakterisieren, so kann z.B. das Schachbrettmuster das Leichentuch in einer Aufbahrungsszene bedeuten, das Winkelmuster die Bespannung eines Wagens oder einer Kline, und die Winkelreihe immer wieder belaubte Zweige und Girlanden. Es gibt sich eine Kunst zu erkennen, die nicht deskriptiv nachahmt, sondern “aus charakterisierenden ornamentalen Formen aufbaut”. Im Fall der geometrischen Terrakottastatuette aus Samos ist das Flechtband nicht nur ein charakterisierendes Epitheton des Gürtels, das dessen umspannende Kapazität und Dehnbarkeit bezeichnet, sondern (auch) der Gürtel selbst. Im Hinblick auf Homers Charakterisieren mit feststehenden Beiwörtern lässt sich von einer Parallele zur Poesie auf dem Gebiete der bildenden Kunst sprechen. Bei selbständiger Funktion als Dekor ganzer Gefässe lässt sich in analoger Weise plausibel machen, dass die scheinbar so abstrakten Muster als Darstellungen vegetabiler Formen zu deuten sind. Bezeichnenderweise haben fast alle geometrischen Ornamente mykenische Vorläufer, die zweifelsfrei als Pflanzen gekennzeichnet sind, und meistens auch archaische Nachfolger dieser Art.

Die Kenntnis dieser frühen Arbeit des Autors, das Nachvollziehen jedes einzelnen seiner theoretischen Schritte ist Voraussetzung für das Verständnis der neu vorgelegten Untersuchung. Unsere ganz auf gefühlsmässigem Erleben basierenden, festgefahrenen Sehgewohnheiten verbieten es ja zunächst geradezu, z.B. den Mäander als ein pflanzliches Motiv zu verstehen. Dabei ist er tatsächlich durchaus “untektonisch”. Er weist keine axialsymmetrischen Beziehungen auf, es lassen sich keine Einzelglieder isolieren und er kann, da er weder Anfang noch Ende besitzt, nur mitten im Fluss abgeschnitten werden. Seine Richtungsdynamik kann in beiden Richtungen gelesen werden und seine einfache Form bleibt sich bei Umkehrung gleich. Gerade dieser unter konstruktivem Aspekt undurchsichtige Charakter des Hakenmäanders spricht dafür, dass er “Gegenständliches darstellt und daraus seine Eigenschaften bezieht”. Die für uns so auffällige Eckigkeit steht dieser Deutung nicht im Wege, sie ist nur deren ornamentale Form. Diese Deutung wird dadurch unterstützt, dass an früharchaischen Vasen die Stellen, die sonst vom Mäander eingenommen wurden, nun fortlaufende Wellenranken oder andere vegetabile Motive wie Flechtbänder zeigen. Es sei hier auch an den “Mäanderbaum” erinnert, der auf spätgeometrischen rhodischen Kannen erscheint, und in Unteritalien von nichtgriechischen Malern getreu übernommen wird, wobei seine mehrmals einwärts geknickten Äste wiederum zu rankenähnlichen Spiralen werden können.2 An menschlichen Figuren können da, wo deskriptive Darstellung kleinlich wirken würde, pflanzliche Ornamente wie Volute und Spirale als ornamentale Floskeln an die Stelle des Ohrs oder Stirnhaare treten, wobei sie “blühende Lebenskraft” veranschaulichen. An bemalten samischen Terrakotten, an denen das das Gewand darstellende geometrische Rankengeschlinge sukzessive von wirklichkeitsnäheren Schrägmantelfalten ersetzt wird, zeigt sich, wie sehr die deskriptive Darstellung gegenüber der ornamentalen einbüsst, was sie an Stofflichkeit hinzugewinnt.

Auf diesen nochmals kurz und konzentriert wiedergegeben Ergebnissen dieser Arbeit über die geometrische Zeit fussen die Erkenntnisse der neue Untersuchung zum Wesen der griechischen Pflanzendarstellung, die nun weit über die archaische frühe Epoche hinuntergehen, um letztlich in der Betrachtung des Rankenfrieses der Ara Pacis zu enden. In diesem sehr weit gespannten zeitlichen Bogen der Betrachtung können nicht alle ausgewählten Bildthemen in gleichem Masse zur Illustration der Hauptthesen beitragen. Als besonders einleuchtendes Beispiel für die ornamental poetische Form im Vergleich zur deskriptiv naturalistischen wird zunächst das Blütengebilde in der Hand der Frauen genannt, das während der ganzen archaischen und klassischen Zeit meist in ornamentaler Form, zunächst als gestielte Palmette, dann in Form einer Volutenranke erscheint. Im Fall der mit Zwickelpalmetten bereicherten Spiralranke in der Hand der Artemis auf einer Vase des Andokidesmalers wird vegetabiles Leben auf die kürzeste Formel gebracht, “neben der auch die glänzendste deskriptive Schilderung eines Blütenzweiges dürr und schwunglos wirken müsste”. Tatsächlich kann man mit dem Autor sagen, dass das Ornament hier Gegenständliches nicht nur vertritt, sondern darüber hinaus in seiner Lebendigkeit steigert. Hier lässt sich der Grund dafür fassen, dass die griechische Kunst das Landschaftliche und die Pflanzenwelt grösstenteils in ornamental-poetischer Verdichtung dargestellt hat.

Spätestens an dieser Stelle (S. 25) wird klar, dass es dem Autor nicht nur um die Erfassung einzelner Phänomene geht, sondern um eine grundsätzliche Aussage über das “was die Klassizisten mit einem neuzeitlichen Begriff als die Idealität der griechischen Kunst bezeichneten”. Der anhand der Beispiele geschilderte Entwicklungsgang der ornamental-poetischen Darstellung zeigt, dass die Idealität nicht durch Verschönerung und Verklärung und erst recht nicht durch Abstraktion entsteht, sondern durch Charakterisierung und Potenzierung des Natürlichen. Die Rose der für ihre Schönheit berühmten rhodischen Münzen bildet den Ausgangspunkt für die Analyse dieses Blumenbildes. Da deren fächerförmig sich öffnenden konkaven Blütenblätter von allen natürlichen Varietäten abweichen, ist eine realistische Wiedergabe einer bestimmten Art offenbar nicht vorauszusetzen. Trotzdem steht sie in einer festen Typentradition, die sich bis in spätarchaische Zeit hinaufverfolgen lässt. Ganz der archaischen ‘Ansicht’ des Gegenstandes verpflichtet, bei der ihre einzelnen Bestandteile übersichtlich in der Fläche ausgebreitet sind, lässt sie ihre Konturen sprechen, womit vor allem ihre vegetabile Lebendigkeit anschaulich wird. Anhand des Vergleichs der Blüte in der Hand einiger Figuren des Andokidesmalers mit älteren Blütenketten gelingt es, zu zeigen, dass diese eigentlich eine Abwandlung eines ornamentalen, idealen Blütentypus der Lotosblüte ist, die durch Merkmale der Rose verändert wurde. Die Annahme eines archetypischen Grundmusters von Blüte in der Tradition des ägyptischen Lotos schliesst denn auch tatsächlich die nachahmende Schilderung einer bestimmten Varietät aus, daher der Eindruck der Idealität.

Wer stellt sich je die Frage, warum Palmen auf attisch schwarzfigurigen Vasen üblicherweise dem Stamm entlang angeordnete symmetrische Wedel haben, wo diese in der Natur doch einen dichten Schopf an der Spitze bilden? Dennoch ist gerade diese Frage besonders wichtig und weiterführend, denn durch das Hinaufverfolgen des Phänomens zeigt sich, dass hier wiederum alte Archetypen wirkten. Am Anfang der griechischen Bildtradition stehen zwei Typen, die beide auf orientalische bzw. ägyptische Vorbilder zurückgehen müssen und von denen einer schon in der mykenischen Vasenmalerei des zweiten Jahrtausends vertreten ist. Der Typus mit Schirmwedeln und Scheiteltrieb hat Vorbilder auf phönizischen Elfenbeinreliefs. Der zweite Typus besteht aus einem strichförmigen Stamm, an dem entlang mehrere Schirmwedel paarweise verteilt sind. Diese “Stockwerkpalme” weicht im Erscheinungsbild ganz erheblich vom Palmbaum ab. Gerade das, was schon Odysseus an der Palme so bewunderte, wenn er Nausikaa mit ihr verglich, ihr schlanker und biegsamer Wuchs, kommt dabei nicht zur Geltung. Trotzdem, und obwohl vorauszusetzen ist, dass die griechischen Maler die Palme in der Natur kannten, beherrscht diese Grundform als eine Art Urpalme die anschliessende griechische Überlieferung bis in spätklassische Zeit. Sie nimmt mit der Zeit im Detail, z.B. in der Form der Wedel oder des Stamms, naturnahe Züge an. Die durch den Archetypus vorgegebenen Merkmale schlagen aber auch in den scheinbar realistischen Wiedergaben immer noch durch. Es sind ebendiese Merkmale, die den griechischen Darstellungen ihren “sogenannten idealen Charakter” verleihen.

Auch bei der schon erwähnten naturwidrigen Wiedergabe der Getreidehalme als züngelnd bewegte Stängel lässt sich zeigen, dass diese nicht etwa der Willkür der Maler entspringt. Der Begründer dieser Darstellungskonvention wollte nicht das äussere Erscheinungsbild eines Halmes wiedergeben, sondern unabhängig davon das vegetabile Leben veranschaulichen, das in der Pflanze wirksam ist. Die formale Anregung empfing er aus dem Bereich des Ornaments, das in der Spiralranke und in der Palmetten-Wellenranke analoge Dynamik entwickelt. Auch hier also die Tendenz hin zu einer idealen Wiedergabe des vegetabilen natürlichen Lebens. Ähnliche Kennzeichen von Idealität sind fassbar, wenn an Obstbäumen die Früchte (melon) nicht wirklich zu unterscheiden sind, oder gleichzeitig mit Blüten an den Ästen erscheinen, und wenn die Rebe sich auf den unzähligen, meist stark vereinfachenden Darstellungen mit Blättern und Trauben weit und flächendeckend ausdehnt, wobei sie wohl wieder archetypischen assyrischen und ägyptischen Vorbildern mit ausgebreitetem Spalier folgt. Immer wieder stellt man fest, dass die Künstler dem Grundmuster der Archetypen ihre eigentümliche Lebendigkeit zu verleihen versuchen, wobei sie gelegentlich auf realistische Beobachtung zurückgreifen, aber “stets im Dienste des ‘Ideals'” bleiben.

Die Suche nach den Gründen der “Idealität” der griechischen, der klassischen Kunst, gehört wohl nicht zu den Themen, die gegenwärtig die archäologische Forschung befeuern. John Boardman schrieb 1970 bei der Besprechung der erwähnten ersten Arbeit des Autors:3 “Not a subject which, say, an English scholar would have chosen; nor one which, say, a French scholar could have treated so succinctly, but a real subject and one, which in Himmelmann-Wildschutz’s hand contributes a great deal to our understanding of Geometric art.” Wann auch immer man sich wieder um das Verständnis der griechischen Kunst bemühen wird, um die Einheit von Inhalt und Form, wird die vorliegende Untersuchung wegweisend sein.

Notes

1. N. Himmelmann, Über einige gegenständliche Bedeutungsmöglichkeiten des frühgriechischen Ornaments, Abh. Akad. Mainz, 1968, Nr. 7, 261-346.

2. P. Orlandini, “Il motivo rodio del Maeanderbaum su un vaso indigeno dell’Incoronata”, in: Scritti in ricordo di Graziella Massari Gaballo e di Umberto Tocchetti Pollini, Milano 1986, 55-58, Abb. 1-4.

3. ClassRev, NS 20, 1970, p. 109.