BMCR 2008.11.29

Scholia Graeca in Platonem. I: Scholia ad dialogos tetralogiarum I-VII continens. Pleiadi 5.1

, Scholia graeca in Platonem. Pleiadi ; 5. Roma: Edizioni di storia e letteratura, 2007-. volumes 1 ; 24 cm.. ISBN 9788884983534. €66.00.

Das Studium der antiken Philologie hat in den letzten Jahrzehnten durch eine anwachsende Forschungstätigkeit einen starken Impuls erhalten. Ein wesentlicher Anstoss zur Wiederbelebung des Interesses an diesem für den Klassischen Philologen stets aktuellen, da mit den Grundlagen seiner Wissenschaft eng verwandten Gebiet ging von der Arbeit an den inzwischen abgeschlossenen Editionen zweier zentraler Scholiencorpora aus, der Ilias -Scholien von H. Erbse (Berlin 1969-88) und der zu Aristophanes, die in einem von W.J.W. Koster und D. Holwerda geleiteten Kollektivprojekt (Groningen 1960-2007) durchgeführt wurde. Das grösste Verdienst der derzeitigen Beschäftigung mit der antiken Philologie liegt in der Verlagerung ihres Schwerpunkts von einer blossen Geschichtsdarstellung zu der Erforschung ihrer Besonderheit im Kontext der antiken Fachliteratur. Ein Forschungsdesiderat bleibt jedoch nach wie vor, die noch bestehenden Lücken im editorischen Bereich zu schliessen sowie einige der verfügbaren Ausgaben entsprechend den jüngst erzielten Ergebnissen zu aktualisieren und gegebenenfalls zu ersetzen. Diesem Desiderat kommt Domenico Cufalo mit seiner Edition der Scholien zu den ersten sieben Tetralogien Platons nach; die Ausgabe der Scholien zu den Tetralogien VIII-IX und zu den unechten Werken Platons steht noch aus, da sie auf einer anderen Handschriftenbasis beruhen.

Cufalos Edition ist das Ergebnis einer langjährigen intensiven Beschäftigung mit dem platonischen Scholiencorpus, die auf eine tesi di laurea über die Gorgias-Scholien und auf einen um die Hälfte reduzierten Vorläufer der jetzt publizierten Ausgabe, der von der Universität Florenz als tesi di dottorato angenommen wurde, zurückgeht. Es muss vorweg betont werden, dass man selten eine aus einer Dissertation erwachsene Arbeit sieht, die von so viel Disziplin, Sorgfalt, wissenschaftlicher Redlichkeit und philologischem Können ihres Verfassers zeugt. Cufalos Unternehmen erforderte hohe Kompetenz im Bereich der Kodikologie und Paläographie, aber auch spezielle Vorkenntnisse und erhebliche Vertrautheit mit der komplexen Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte antiker Kommentare sowie grammatischer und lexikographischer Werke, die es Cufalo ermöglichten, zahlreiche gewichtige Entscheidungen, vor denen er in allen Phasen der Vorbereitung und Fertigstellung seiner Ausgabe stand, zu treffen.

Das Buch gliedert sich in drei Teile: Den Hauptteil bildet die textkritische Ausgabe der betreffenden Scholien (1-296). Ihr ist eine in italienischer Sprache abgefasste Einleitung vorausgeschickt (xv-cliii), in der alle Fragen, die mit der handschriftlichen Überlieferung, dem Bestand und Ursprung sowie der Datierung des Scholiencorpus zusammenhängen, detailliert erläutert werden (xv-cviii), ferner drei Appendices, in denen die Befunde seiner Untersuchungen durch paläographische und textgeschichtliche Indizien präzisiert werden (cix-cxxi) und eine Beschreibung der zugrunde gelegten Handschriften (cxxiii-cxxx) sowie ein Conspectus der in der Edition verwendeten Siglen und Abkürzungen (cxxxi-cliii) enthalten sind. Eine ausführliche Gesamtbibliographie zu den Prolegomena und der Edition (297-309) ist im letzten Teil beigegeben. Dieser enthält des Weiteren drei Register (311-331): zwei Namenindizes (Personen- und geographische Namen) und ein Stellenregister für Zitate antiker Autoren, die im edierten Scholiencorpus erwähnt werden.

Mit der vorgelegten Ausgabe erhebt Cufalo den berechtigten Anspruch, für den kritisch erschlossenen Scholienbestand die bislang verfügbare Edition von W.C. Greene zu ersetzen, die seit ihrem Erscheinen im Jahre 19381 den massgeblichen Text für das Corpus der Platon-Scholien lieferte. Trotz ihrer Vorzüge gegenüber den bis zu diesem Zeitpunkt auf der Grundlage einzelner Handschriften erfolgten Editionen2 konnte die Ausgabe von Greene “nur als Zwischenstufe auf dem Weg zu höherer Vollendung Geltung beanspruchen”.3 Cufalos Edition beruht hingegen auf einer deutlich breiteren handschriftlichen Überlieferung als die von Greene — die Hss. D ( Cod. Marcianus Graecus 185 aus dem 11./12. Jh.) und P ( Cod. Palatinus Graecus 173, aus der Mitte des 10. Jh.) wurden erstmalig für eine kritische Ausgabe der Platon-Scholien ausgewertet — und auf einer gründlicheren Scheidung der verschiedenen Hände und des Scholienbestandes im berühmten Cod. Bodleianus Clarkianus 39 (β dem sogenannten “Platon des Arethas”, der 895 im Auftrag des Erzbischofs von Johannes Kalligraphos angefertigt wurde. Darüber hinaus stellt die vorliegende Ausgabe nicht nur in ihrer Anlage und technischen Ausführung einen erheblichen Fortschritt dar; vielmehr liegen ihr neue Ausgangspositionen zu Entstehungsbedingungen, Quellen und Alter der Sammlung zugrunde, die eine unterschiedliche Auswertung des Materials bedingten.

Bei keinem anderen Scholiencorpus sind die Fragen nach seinem Ursprung und seiner Ausformung mit so vielen Unklarheiten belastet, wie es bei den Platon-Scholien der Fall ist. Zu den wesentlichen Problemen zählt die Trennung des Bestandes in zwei Gruppen, in die so genannten scholia vetera, die vorwiegend philologischen bzw. lexikographischen Inhalt haben, und die des Arethas, die im Clarkianus überliefert sind und wahrscheinlich aus der Feder des Erzbischofs selbst stammen. Die Arethas-Scholien, die philosophischen Inhalt haben und auf nicht mehr identifizierbaren bzw. nicht mehr erhaltenen neuplatonischen Kommentaren beruhen, stellten bislang einen eigenständigen, vor allem aber, wie man glaubte, jüngeren Überlieferungszweig dar, eine Ansicht, die Greene dazu führte, diese in einem von den restlichen Scholien separaten Abschnitt seiner Ausgabe zu drucken. Abgesehen davon, dass dieses Verfahren die Benutzung der Greeneschen Edition erheblich erschwerte, wurde die Annahme einer unterschiedlichen Herkunft und Datierung dieser Scholien nicht konsequent umgesetzt. Dubletten von Arethas-Scholien, die in den restlichen Handschriften überliefert sind — dies ist bei den Scholien zu Theätet, Sophistes und Alkibiades I fast die Regel —, führte Greene paradoxerweise an zwei Stellen an, sowohl unter den scholia vetera als auch zusammen mit den weiteren Arethas-Scholien, wobei er aber oft jeweils einem uneinheitlichen, durch die handschriftlich bezeugten Abweichungen bedingten Text folgte. Aber auch die Aussonderung eines alten Scholienbestandes, von der stets ausgegangen wurde, hält kritischer Überprüfung nicht stand: Die Übertragung “alexandrinischer” Verhältnisse auf die Entstehungsgeschichte der Platon-Scholien, d.h. die Scheidung eines alten Kerns von einer jüngeren, aus byzantinischer Zeit stammenden Bearbeitung bzw. einer neuen Sammlung ist angesichts der besonderen Quellensituation nicht angebracht. Damit hängt ein weiteres Problem eng zusammen, das Alter der verarbeiteten Quellen. In keinem anderen vergleichbaren Scholiencorpus sind die Primärquellen so jung, wie es bei den Platon-Scholien der Fall ist. Auf der anderen Seite steht fest, dass die Bildung der Sammlung aus Gründen der handschriftlichen Überlieferung das Ende des 9. bzw. den Beginn des 10. Jh. nicht überschritten haben kann. Diese Feststellungen haben bislang zu divergierenden Positionen hinsichtlich der Entstehungsbedingungen und der Datierung der Sammlung, vor allem der vermeintlichen scholia vetera geführt. Während T. Mettauer von einem einzigen Redaktor ausging, der die Arbeit an seinem Kommentar zu Beginn des 6. Jh. abgeschlossen habe,4 nahm L. Cohn die Existenz eines alten gelehrten Grundstocks philologischen Charakters an, der bis zur Fixierung der Sammlung spätestens im 9. Jh. durch Exzerpte aus neuplatonischen Kommentaren und Werken verschiedenen Inhalts erweitert wurde.5

Im ersten Kapitel seiner Einleitung (xv-xxviii) gibt Cufalo einen ausführlichen Forschungsüberblick und legt den status quaestionis dar. Daraus wird ersichtlich, dass weder mit Cohns Quellenuntersuchung noch mit der Greeneschen Ausgabe, die sich auf die Ergebnisse Cohns gründete, das letzte Wort über Herkunft, Entstehungsbedingungen und Datierung des platonischen Scholiencorpus gesagt wurde. Einen deutlichen Wendepunkt in Fragen der Platon-Rezeption markieren die seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts erbrachten Forschungsergebnisse, die gezeigt haben, dass die Platon-Scholien und das in ihnen dokumentierte Interesse an Platon ein Werk der nun auf das 9. Jh. anzusetzenden “philosophischen Renaissance in Byzanz” im Kreis des Photios und später des Arethas sind. Die Voraussetzungen für die Entstehung des Scholiencorpus waren vielfältig: die Existenz einer neuen Platon-Ausgabe und die Anfertigung von Sammlungen und Abschriften neuplatonischer Kommentare, wie der des Proklos, des Olympiodor, des Damaskios und des Hermeias sowie einer Reihe anonym überlieferter Prolegomena zur platonischen Philosophie. Es leuchtet daher ein, dass Arethas’ eigene Kommentartätigkeit dem Bedürfnis nach einer umfassenden, philosophischen wie auch grammatisch-lexikalischen Erläuterung des platonischen Werkes nachkam bzw. mit ihr einherging.

Unter diesen Bedingungen sieht Cufalo das Desiderat einer neuen Ausgabe der Platon-Scholien in der Notwendigkeit begründet, eine zuverlässige Edition zu liefern, welche zudem das Quellenproblem und die Fragen nach der Entstehung und Datierung der Sammlung auf der Grundlage der neuen Forschungsergebnisse behandelt (xxvii). Beiden Ansprüchen wird der Herausgeber gerecht. Nach einer gründlichen Untersuchung der besonderen Verflechtungen, die die einzelnen Überlieferungsträger in Bezug auf den Textbestand untereinander aufweisen, werden in den drei darauf folgenden Kapiteln (xxviii-xliv: “Gli scoli al Gorgia”; xliv-lxii: “Gli scoli a Teeteto, Sofista ed Alcibiade I” und lxii- lxxxi: “Gli scoli ai restanti dialoghi”) anhand repräsentativer Beispiele aus den einzelnen Handschriften bzw. Handschriftenfamilien die Entstehungsbedingungen des Corpus geschildert — zu diesen Abschnitten sind auch die drei Appendices (cix-cxxi) zu konsultieren. Das Ergebnis dieser Untersuchung kann wie folgt zusammengefasst werden: Das Corpus ist Produkt einer progressiven Exzerpiertätigkeit aus Material mannigfachen Inhalts, welches eine unterschiedliche Verteilung in den verschiedenen Überlieferungsträgern findet: 1. ein Konglomerat philosophischen Charakters, das seinen Ursprung in neuplatonischen Kommentaren hat und das in allen handschriftlichen Zeugen (B, T und PW) vertreten ist, 2. eine Sammlung grammatischen bzw. lexikographischen Inhalts, die vorwiegend in den Hss. der Familie T und PW vorkommt, und 3. eine Sammlung mit vorwiegend parömiographischem Inhalt, die in T vertreten ist. Der Entstehungsprozess des Scholiencorpus begann im 9. und kam in der ersten Hälfte des 10. Jh. zum Abschluss. Aus diesen Ergebnissen zieht Cufalo gewichtige Konsequenzen für seine Ausgabe. Die erste betrifft das Editionsprinzip: Die Arethas-Scholien sind gemeinsam mit den vermeintlichen scholia vetera herauszugeben. Die zweite betrifft die Identifizierung und Datierung der Quellen: Als Ausgangsposition und Basis des Vorhabens gilt die Feststellung, dass das Alter der identifizierbaren Quellen bzw. der “ersten” Quellen nicht mit dem der Sammlung gleichzusetzen ist. Diese grundlegende These erläutert Cufalo im vorletzten Abschnitt der Einleitung (lxxxi-cvi: “Origine e la formazione del corpus”): Stellt die Sammlung ein Produkt des “ersten byzantinischen Humanismus” im 9./10. Jh. dar, so ist durchaus denkbar, dass ihre Quellen mit denen identisch sind, die zu dieser Zeit verfügbar waren. Neben der “Collezione Filosofica” tritt an die Stelle zahlreicher Lexika aus der Spätantike, die bislang als Quellen in Betracht gezogen wurden, ein Sammelwerk, die Synagoge lexeon chresimon in der erweiterten Version Σ”, die auch dem Photios- und dem Suda-Lexikon zugrunde gelegen hat;6 ihr sind die einzelnen lexikographischen Werke, vor allem die attizistischen Lexika des Pausanias und Ailios Dionysios einverleibt worden. Diogenians Lexikon scheint noch selbständig herangezogen worden zu sein. Für den parömiographischen Bestand wurde die Epitome des Zenobios zugrunde gelegt; als Quelle für Scholien geographischen und mythographischen Inhalts kommen Sammelwerke in Frage, die in dieser Zeit entstanden sind.

Die Vorzüge von Cufalos Edition und der Fortschritt gegenüber der von Greene werden bereits durch die Anlage der Ausgabe sichtbar — die Editionsprinzipien und technische Einzelheiten werden im letzten Abschnitt der Einleitung (cvi-cviii: “La presente edizione”) erläutert. Die einzelnen Scholien tragen neben der Angabe der Stephanus-Seite und des Lemmas eine laufende Nummer. Dieses Verfahren sorgt für Übersichtlichkeit und erleichtert das Auffinden der Verweise in den Begleitapparaten; hieran orientieren sich auch die Querverweise innerhalb der gesamten Edition. Nach jedem Scholion werden die Siglen der Handschriften, die es überliefern, angegeben; auf diese Weise erhält der Leser einen ersten Eindruck von Charakter und Inhalt der Scholien. Nach dem bewährten Verfahren bei der Edition von Scholiensammlungen und lexikographischen Werken ist am Textrand die zugrunde liegende Quelle verzeichnet. Quellenwechsel innerhalb ein und desselben Scholions wird mit einem senkrechten Strich markiert. Mit Petitdruck sind Scholien angeführt, die meist handschriftlich bezeugte Textvarianten zum betreffenden Bezugstext enthalten; diese hatte Greene nicht aufgenommen. Der griechische Text wird von drei Apparaten begleitet: Im ersten werden Parallelstellen aus dem Scholiencorpus verzeichnet. Der zweite besteht aus einem Testimonienapparat, der hauptsächlich die Quellen der Scholien betrifft. Der an die letzte Stelle gesetzte textkritische Apparat richtet sich nach der laufenden Nummer der Scholien; der Verzicht auf Zeilennumerierung im Verlauf des griechischen Textes ist zwar für die kürzeren Scholien kein Problem, bei den längeren Stücken dagegen wird die Orientierung durch die zahlreichen Angaben erschwert. Trotz der Fülle von Informationen, die Cufalo für seine Apparate, besonders für den Testimonienapparat verarbeitet hat, ist die Entscheidung, was gedruckt und was ausgelassen wurde, stets ausgewogen. Es ist ferner hervorzuheben, dass Cufalo auch die in diesem Band nicht edierten Scholien zur Kenntnis genommen und ausgewertet hat.

Die Entscheidungen des Herausgebers bei Fragen der Textkritik und Quellenzuweisung werden häufig im Testimonien- und textkritischen Apparat begründet. Bei der Textherstellung ist Cufalo stets bemüht, “la versione “originaria” degli scoli” (cvii) zu rekonstruieren. Dennoch ist bei einer Textgattung wie der Scholien- und sonstigen Gebrauchsliteratur der Begriff “original” besonders relativ; umso mehr, wenn der Entstehungsprozess einer Sammlung mehrere Phasen durchlaufen hat, wie es bei den Platon-Scholien der Fall ist. Woran ist unter diesen Umständen der ursprüngliche Wortlaut zu messen? Das Problem wird deutlich, wenn man Cufalos Unterscheidung zwischen einer a)- und einer b)-Version derselben Notiz an denjenigen Stellen, an denen die handschriftliche Überlieferung keinen einheitlichen Text bietet, auf ihre Plausibilität hin überprüft. In diesen Fällen werden die Textabweichungen nicht als blosse Textvarianten betrachtet, sondern als zwei unterschiedliche Text- bzw. Kommentar-Versionen gewertet, von denen die “ursprüngliche” meist schwer zu ermitteln ist. Dennoch geht Cufalo mit diesem editorischen Prinzip oft freizügig und nicht mit gleicher Konsequenz um, so dass sein Vorgehen nicht immer einleuchtet. Eine Trennung in zwei Versionen wiegt schwer, wenn dadurch substantielle Textunterschiede, die den Kern der Interpretation berühren, geltend gemacht werden. Oft aber wird dieses Verfahren von Textauslassungen und Kürzungen bedingt, die über den ursprünglichen Scholienwortlaut eigentlich wenig aussagen. Ein Beispiel für Cufalos Vorgehensweise ist die Erläuterung des Ausdrucks ἀκροχειρίζεσθαι im sch. Alc. I 107e6 (n. 12), die er in zwei Versionen, die erste (a) aus TW, die zweite (b) aus P rekonstruiert, ediert. Die Auslassungen bei P können jedoch nicht zwingend eine Unterscheidung von zwei Scholienversionen rechtfertigen. Ähnliche Kürzungen im Scholienwortlaut kommen auch kurz davor im sch. Alc. I 105b4 (n. 7) vor; hier, wie auch in anderen Fällen, hat sich Cufalo für eine einheitliche Edition des Scholions entschieden, wobei die angegebenen Siglen den in der jeweiligen Handschrift überlieferten Textbestand markieren. Die “synoptische” Ausgabe von zwei Versionen erscheint dagegen notwendig, wenn dies den Text von Handschriftenfamilien — nach dem Muster von Erbses Ausgabe der Ilias -Scholien — betrifft. Dies ist beim ersten Scholion zum Phaidros (nr. 1) der Fall. Wenn aber Cufalo die T-Version (sch. b) gegenüber der von W (sch. a) für ursprünglich hält, wie er im textkritischen Apparat z.St. erklärt, dann fragt man sich, warum er nicht jenen Text druckt und die Abweichungen von W im Apparat vermerkt. Ein stringenterer Umgang mit dem Prinzip der “synoptischen” Ausgabe von Scholienversionen würde sowohl der Übersichtlichkeit als auch der Ökonomie der Edition dienen.

Cufalos Bemühen, den ursprünglichen Scholienwortlaut zu eruieren, greift auch auf die Quellenfrage über. In diesem Zusammenhang hat Cufalo die genaue, wortwörtliche Übereinstimmung zwischen Scholion und der jeweils zugrunde gelegten Quelle gesucht und zur Richtschnur für die Ermittlung der letzteren gemacht. So hat er bei der Quellenzuweisung einer grossen Anzahl von Worterklärungen zu der Synagoge bzw. zu deren erweiterten, aus späteren Lexika — wohl gemerkt — zu erschliessenden Version Σ” vom Fragezeichen Gebrauch gemacht, um damit anzudeuten, dass die Quellenzuweisung nicht zweifelsfrei ist. Cufalos Entscheidung ist jedoch davon abhängig, ob der Scholienwortlaut dem der lexikographischen Quelle genau entspricht oder nicht. Dies hat den übermässigen Gebrauch des Fragezeichens zur Folge. Muss man aber immer davon ausgehen, dass der Scholiast seine Quelle wortwörtlich wiedergibt? Ein Beispiel unter vielen für Cufalos Vorgehensweise stellen die sch. Phaedr. 243b1 (n. 78) und 243b5 (n. 79) dar; am Scholienrand ist beide Male die angenommene Quelle, die Synagoge, mit Fragezeichen vermerkt. Die Unterschiede zwischen dem Wortlaut der Scholien und dem der Quellen sind jedoch so gering, dass man Cufalos Zweifel eigentlich als philologische Pedanterie betrachten könnte. Auch im Falle des sch. Symp. 221e4 a und b (n. 93) ist die Erklärung zu κανθηλίους (in der Bedeutung κάνθων bzw. ὄνος) in der a-Version der Synagoge mit einem Fragezeichen, in der b-Version dagegen einer nicht identifizierbaren Quelle, wie das blosse Fragezeichen besagt, zugewiesen. Die unterschiedliche Quellenzuweisung scheint — falls sie nicht durch einen typographischen Fehler bedingt ist — nicht gerechtfertigt, wie ein Vergleich der in den Scholien überlieferten Erklärung mit denen in der Synagoge, bei Photios und in der Suda erkennen lässt. Auch hier würde man vom Herausgeber etwas mehr Entscheidungsmut erwarten. Ist die Zuweisung etwa zu der Synagoge aus inhaltlichen Gründen gesichert, dann kann man dem Scholiasten bzw. dem Redaktor der Sammlung die Freiheit einräumen, die aus seiner Quelle jeweils geschöpften Informationen zu verändern bzw. an die eigenen Interpretationszwecke anzupassen.

Eine lexikographische Quelle, die es verdient hätte, stärker in Betracht gezogen zu werden, ist das Cyrill-Glossar, welches im Vergleich zu anderen byzantinischen Lexika eine wesentlich grössere Verbreitung genossen hat. Das Cyrill-Glossar ist in die Synagoge einverleibt worden; auch das Hesych-Lexikon ist mit Cyrill-Glossen so stark interpoliert, dass diese sogar ein Drittel des Gesamtbestandes des Hesych ausmachen. Cufalo gibt an mehreren Stellen unter Berufung auf das Hesych-Zeugnis Diogenian (D) als Quelle an. Doch stellen diese angeblich aus Diogenian stammenden, bei Hesych überlieferten Erklärungen vielfach aus Cyrill interpolierte Glossen dar. Das ist z.B. bei der im sch. Phaedr. 258e7 (n. 113) überlieferten Erklärung zum Ausdruck πνίγει bzw. πνῖγος der Fall. Die im Testimonienapparat zitierte Hesych-Stelle ist, wie Cufalo selbst vermerkt, eine Cyrill-Interpolation. Es erscheint daher plausibler, dass die Quelle des betreffenden Scholions die Synagoge oder doch das Cyrill-Glossar ist. Angesichts der grossen Anzahl von Stellen, die von einer Verwandtschaft zwischen Cyrill und den in den Platon-Scholien überlieferten Worterklärungen zeugen, kann man die Möglichkeit einer Heranziehung und Verarbeitung des Cyrill-Glossars kaum ausschliessen.

Der Druck der Arbeit ist makellos. Der komplizierte Satz der Ausgabe ist sehr gut leserlich; zudem scheint die Edition bzw. der griechische Text frei von typographischen und sonstigen Fehlern zu sein. Dasselbe gilt für die umfangreichen Apparate und die zahlreichen, darin enthaltenen Stellenangaben und Verweise. Manche Unstimmigkeiten in den Abkürzungen und in der Zitierweise antiker Autoren und Werke (z.B. Did. statt des sonst verwendeten Kürzels Didym.; K als Abkürzung für das Cyrill-Glossar zur Angabe der Quelle am Scholienrand, Cyr. als sonst verwendetes Kürzel und ähnliches) bereiten keine allzu grossen Verständnisschwierigkeiten. Dass schliesslich der Preis des Buches im Vergleich zu Ausgaben von Scholien und lexikographischen Werken bei anderen Verlagsreihen verhältnismässig niedrig gehalten wurde, kann dem Studium der antiken Philologie nur förderlich sein.

Mit der vorgelegten Edition hat Cufalo eine ausserordentliche Leistung in einem schwierigen Kapitel antiker und byzantinischer Philologiegeschichte erbracht. Wie eingangs erwähnt, ist die vorgelegte Ausgabe als der erste Band einer Gesamtausgabe der Platon-Scholien verzeichnet und trägt daher die laufende Nummer 5.1 in der von Franco Montanari geleiteten Reihe Pleiadi. Der Rezensent kann nur den Wunsch äussern, dass die Arbeit am zweiten Band bald zum Abschluss und zur Publikation gebracht wird. An Platon wie auch an der antiken Philologie interessierte Forscher werden Cufalo dafür besonders dankbar sein.

Notes

1. W.C. Greene (ed.), Scholia Platonica, contulerunt atque investigaverunt Fredericus De Forest Allen, Johannes Burnet, Carolus Pomeroy Parker. Omnia recognita praefatione indicibusque instructa edidit Guillielmus Chase Greene. Philological Monographs 8, Haverford, Ps. 1938.

2. Stellvertretend sei hier die ausführliche Rezension zu Greenes Ausgabe von W.A. Oldfather in: Classical Philology 36 (1941) 371-89 erwähnt.

3. So H. Erbse, Untersuchungen zu den attizistischen Lexika. Abhandlungen der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, phil.-hist. Kl., Jhrg. 1949, Nr. 2, Berlin 1950, 48 Anm. 2.

4. Siehe T. Mettauer, De Platonis scholiorum fontibus, Zürich 1880.

5. Siehe L. Cohn, “Untersuchungen über die Quellen der Platon-Scholien” in: Jahrbücher für classische Philologie, Suppl.-Bd. 13 (1884) 773-864.

6. Der Überlieferungsgeschichte der Synagoge gilt die Einleitung von I.C. Cunningham (ed.), Synagoge. Texts of the Original Version and of Ms. B, Sammmlung griechischer und lateinischer Grammatiker 10, Berlin/New York 2003.