BMCR 2008.02.33

Von den Toren des Hades zu den Hallen des Olymp: Artemiskult bei Theokrit und Kallimachos. Mnemosyne Suppl. 281

, Von den Toren des Hades zu den Hallen des Olymp : Artemiskult bei Theokrit und Kallimachos. Master and use copy. Digital master created according to Benchmark for Faithful Digital Reproductions of Monographs and Serials, Version 1. Digital Library Federation, December 2002.. Leiden: Brill, 2007. 1 online resource (xv, 317 pages).. ISBN 9789047419457. $120.00.

In den Dichtungen des Theokrit und des Kallimachos scheint wiederholt ausführliches Wissen um Götterepiphanien, Prozessionsverläufe sowie um verschiedene Formen des religiösen Rituals auf. Petrovic möchte zeigen, dass es sich hierbei nicht primär um eine Rezeption schriftlicher Quellen handeln muss, sondern die Dichter ihr Augenmerk auch auf die zeitgenössische Kultpraxis gerichtet haben. P. beschränkt sich für ihre gründliche Untersuchung dabei auf die zwei Gedichte, die um Artemis und ihren Kult kreisen: Theokrits 2. Idyll (Kapitel 1 und 2) und Kallimachos’ Hymnos auf Artemis (Kapitel 3 und 4). Die Arbeit zerfällt in zwei Teile: der erste, der sich mit dem theokriteischen Gedicht beschäftigt, ist deutlich stringenter und in der Interpretation überzeugender als der zweite, der die vielseitigen kallimacheischen Hymnen trotz grosser Materialfülle nicht recht zu fassen bekommt.

Das erste Kapitel analysiert die Komposition des zweiten theokriteischen Idylls. Hierfür entwirrt P. zunächst kenntnisreich das Geflecht magischer Praktiken, die Simaitha, die Protagonistin des Idylls, zur Anwendung bringt, um den ihr abtrünnigen Geliebten Delphis zurückzugewinnen. Artemis, im Frühhellenismus gewöhnlich noch nicht mit der Zaubersphäre verbunden, erscheint hier in der später klassischen Verbindung mit den Göttinnen des Dunkels und der Magie, Hekate und Selene. Deren Eigenschaften untersucht P. zunächst, bevor sie sich den Papyri Graecae Magicae zuwendet. Diese sind, obgleich nachchristlich zu datieren, als wertvolle Quelle für die im zweiten Idyll vorgeführten Rituale anzusehen. P. analysiert durch genaue Entschlüsselung der “Rezepte” typischer ἀγωγαί (Heranführungzauber) und φιλτροκατάδεσμοι (Liebesbindezauber) sowie deren Zutaten Simaithas eigenen Zauber. Sie stellt fest, dass das Idyll in zwei Einheiten zerfällt, die durch einen jeweils sich wiederholenden Refrain gekennzeichnet sind. Die Anrufungen zuerst des Zauberrädchens und dann der Selene, welcher Simaitha ihre missliche Lage nach Art der zahlreich gefundenen Bleitäfelchen schildert, ergeben gemeinsam Simaithas persönliches Ritual. Es ist nicht von Erfolg gekrönt, da die verliebte Frau sich, wie P. an einzelnen Elementen aufzeigt, eher zu den Amateuren in Zauberdingen zählen muss. Um diese Pointe ausspielen zu können, muss nicht nur bei Theokrit, sondern auch seiner Leserschaft eine mehr als oberflächliche Kenntnis dieser eigentlich einer urbanen Unterschicht zugeordneten Rituale bestehen.

Wie die Zauberpraktiken dient auch die im 2. Idyll geschilderte Prozession, deren Interpretation das zweite Kapitel gewidmet ist, der Charakterisierung der Protagonistin. Nach P.s Auffassung werden entscheidende Signale im Verlauf der Prozession, die der literarisch gebildete Leser sofort entschlüsselt, von Simaitha selbst nicht verstanden: die verstorbene Amme sowie der die Prozession begleitende Löwe evozieren die düstere Seite der Artemis, deren Zorn Simaitha auf sich ziehen muss, wenn sie deren Festzug ausgerechnet zu dem Zweck unterbricht, einem Mann schöne Augen zu machen. Die Bestrafung durch Unglück in der Liebe muss hier im Zusammenhang mit Artemis nicht verwundern: zum einen ist Artemis in Union mit den Zaubergöttinnen Hekate und Selene im 2. Idyll zuständig für Liebesdinge; zum anderen scheint Theokrit diese Rolle selbst zusätzlich betonen zu wollen, indem er mit den die Prozession begleitenden Tieren den homerischen Aphroditehymnos anklingen lässt. Als Gegenbild zu Simaitha sieht P. Anaxo, die im Festzug vorbildlich den Kanephorendienst ausführt und somit der Protagonistin wohl auch gesellschaftlich überlegen ist. P. schliesst zusammenfassend auf Kos als Handlungsort des Idylls (hier muss es auf S. 91 bei der Datierung des Antoninus Liberalis “am Anfang des zweiten Jh. n. Chr.”, nicht “v. Chr.” heissen).

Die Interpretation des zweiten Idylls als Charakterspiegel Simaithas kann durch P.s kenntnisreiche Argumentation durchaus überzeugen. Nicht ganz nachvollziehbar ist allerdings ihr Versuch, Simaitha in eine “bukolische Evolutionstheorie” einzuordnen. Danach rangiert diese auf der untersten Stufe der bukolischen Sänger, weil sie nicht (wie die Hirten im Wettbewerb oder der Kyklop im Lied) über die Heilkraft des Liedes reflektiert, sondern sich in den Zauber flüchtet. Simaitha gehört aber gar nicht zum bukolischen Personal, sondern zum urbanen Milieu, das andere Lieder singt (vgl. Idyll 15, 100ff.) und andere Strategien gegen Liebeskummer verfolgt. Sie nimmt also von vornherein gar nicht am bukolischen Wettbewerb teil. Bloss assoziativ ist P.s Gedankengang zu nennen, nach dem Simaitha ein Publikumsliebling sei, da sie als Kind erscheint (V. 1 und V. 108ff.). Dieses dichtende Kind wird mit dem Hirtenknaben des ersten Idylls verglichen, der wie Simaitha “eine Falle dichtet” – er für Zikaden, sie für Delphis. Dieser Bogen ist mit Sicherheit zu weit gespannt. Abschliessend sei noch auf ein kleines Versehen hingewiesen, wenn P. auf S. 38 und 39 von der “Schwelle des Daphnis” statt der des Delphis schreibt (Daphnis ist der Name des Geliebten in Vergils Version des zweiten Idylls, der achten Ekloge).

Mit Kapitel 3 geht P. zur Betrachtung der kallimacheischen Hymnen zunächst in ihrer Gesamtheit über. Sie unterstreicht, dass die kultische Inszenierung göttlicher Präsenz gleichzeitig ein Leitmotiv der kallimacheischen Hymnen sowie ein besonderes Kennzeichen der hellenistischen Feste darstellt, und plädiert somit gegen eine Auffassung der Hymnen als blosse Lesetexte. Es spricht jedoch ihrer Meinung nach nichts gegen eine spätere Buchform der Hymnen, die als Korpus zu lesen und verstehen sind. P. kritisiert: 1) wie stark bisher eine Aufführung der Hymnen von der tatsächlichen Religiosität des Dichters abhängig gemacht wurde, 2) dass der ihm eigene Humor ausschliesslich als subversiv und relativierend verstanden wird und 3) dass gerade die mimetischen Hymnen (in ihrem die Realität nachzeichnenden Berichten) als nicht mit tatsächlichem Festgeschehen vereinbar beurteilt werden. Kennzeichen der hellenistischen Feste ist aber gerade der fest geregelte, geradezu bis zur Perfektion getriebene Ablauf, der die Integration einzelner Bestandteile wie sogar das Nicken einer Palme und das Singen eines Schwanes (Apollonhymnos) ohne weiteres ermöglichen würde. Der Sprecher des Hymnos träte dann in die Vermittlerrolle zwischen Festgemeinde und den jeweils epiphanierenden Göttern. Gerade die Epiphanie verschiedener Götter wird im Hellenismus in stets wachsender Anzahl dokumentiert; P. bespricht in diesem Zusammenhang kurz die neu aufkommende Gattung der Aretalogien sowie ausführlicher die tatsächliche Inszenierung der Epiphanie in immer aufwendigeren Festzügen und unter Wiederbelebung alter Bräuche und Rituale. Genau dies erlebte Kallimachos nach ihrer Einschätzung als Zeitzeuge und machte diese Elemente seiner Lebenswirklichkeit zum Thema einer Hymnendichtung, die auch beim Leser eigene Festerfahrung evoziert. Als Aufführungstexte intensivieren die Hymnen die kollektive Erfahrung der Festgemeinde, als Lesetexte perpetuieren sie das Götterfest.

Das vierte und letzte Kapitel ist ganz der Gestalt der Artemis im kallimacheischen Hymnos gewidmet. Nach einem Überblick über die gängigen Diskussionspunkte der Forschung – Inhalt, Einheit und Abhängigkeit des Hymnos vom homerischen Apollonhymnos sowie seine Rolle im kallimacheischen Hymnenkorpus – stellt P. die These auf, Kallimachos schaffe eine Göttin Artemis, die so zwar in der Literatur nicht vorgegeben, in der Realität der Kultpraxis aber längst präsent gewesen sei. Für den zeitgenössischen Leser, der den lebensweltlichen Hintergrund der Dichtung aus eigener Anschauung kenne, stelle sich somit das Problem einer in der Literatur nicht zu verfolgenden Tradition gar nicht, weil er ausserliterarische Informationen einbringen könne. Kallimachos biete, so P., ein Aition für Artemis als die Stadtgöttin an, die sie tatsächlich bereits war. Durch eine Auflistung aller Städte, in denen Artemis zu Kallimachos’ Zeit bereits primär verehrt wurde (einschliesslich der orientalischen Varianten), will P. diese Göttin der “dreissig Städte” auch für den heutigen Leser sichtbar machen. Besonders die Dominanz der ephesischen Artemis im kallimacheischen Hymnos spreche dafür, dass hier der Kult einer Gottheit in den Mittelpunkt gerückt werde, der vor der Verlagerung des Zentrums der griechischen Welt im Hellenismus nur Randerscheinung war. Nicht also die Rolle der Artemis als Stadtgöttin überrasche, so P., sondern der Umgang des Kallimachos mit der literarischen Tradition, die die Göttin so nicht kennt. Der Dichter verstehe es, von Artemis so zu singen, dass sie all ihre literarischen Rivalen und Rivalinnen übertrifft.

P. betont besonders die Rivalität der Geschwister Apoll und Artemis sowie Artemis’ starke Verbindung mit Zeus. Hier ist es schade, dass P., wie bereits in ihrer allerersten Fussnote bemerkt (S. χιιἰ, sich nicht näher mit den Kulten und der Königsideologie der Ptolemäer beschäftigen will. Die kleine Artemis ist auch in der Realität als die Geschwistergottheit des kleinen Apoll Ptolemaios II., des “göttlichen Kindes” (so ein Teil seines ägyptischen Titels) zu verstehen, nämlich als Königin Arsinoe II., die ihrem Bruder gleich stark an die Seite tritt. Dies wird im literarischen Spiel in eine kindgerechte Rivalität umgesetzt. Auch der starke Bezug zu Zeus, den P. bemerkt, ist der Rolle der Arsinoe als “Tochter des Amon” (Zeus-Amon) geschuldet. Artemis trägt im kallimacheischen Hymnos unverkennbar das Gesicht der Arsinoe, nach der viele Städte und die Strassen Alexandrias benannt waren (und der bereits 296 v. Chr. die Stadt Ephesos zum Geschenk gemacht worden war!)1.

Das Fehlen dieses historisch-politischen Bezugs verfälscht P.s Ergebnisse nicht, doch würde seine Berücksichtigung ihre Thesen auf eine breitere Basis stellen. Kallimachos’ Götter sind tatsächlich an der Kultwirklichkeit orientiert, wie P. sie für Artemis offenlegt – aber die kallimacheischen Hymnen müssen auch als Panegyrik verstanden werden, und ihre Götter sind die königlichen Götter. In einigen Punkten ihrer abschliessenden Interpretation (zur Ringkomposition des Hymnos im Sinne eines unaufhörlichen Liedes an die Göttin) hätte daher der historische Bezug zum ptolemäischen Hof vielleicht ein pragmatischeres Verständnis einzelner Motive gebracht: so z.B. für die Rolle der Artemis als Muse (V.136f.) im Sinne eines Mäzenatentums der Königin (statt einer Konstruktion der Göttin als “Zeugin” für den eigenen Gesang) und für das Wagenbild (V. 140f.), das nicht einfach, wie P. es tut, mit dem poetologischen Bild des Aitienprologs verknüpft werden kann, sondern auch wieder einen besonderen Aspekt der ptolemäischen Königinnen zeigt: den der königlichen Wagenlenkerinnen, wie Poseidipp sie nicht müde wird zu preisen.

Das im ganzen informative und gut lesbare Buch, das allerdings zu nachlässig lektoriert wurde, endet mit drei Appendices, die verschiedene Aspekte der im Artemishymnos vorkommenden Amnisiden beleuchten. Sie spekulieren im Wesentlichen darüber, ob Artemis zu Kallimachos’ Zeiten Eileithyia in Kreta bereits ersetzt hatte, und ob der Dichter von den Veränderungen im kretischen Kult Kenntnis haben konnte. Die eher vagen Ergebnisse dieser zusätzlichen Abhandlungen hätten wohl besser in die Diskussion einbezogen werden sollen.

Notes

1. Zu den Kinddarstellungen im ptolemäischen Ägypten und ihren Spiegelungen in der hellenistischen Literatur s. meine demnächst erscheinende Untersuchung “Die Entdeckung des Kindes? Kallimachos und seine Zeitgenossen”.