Ralf Scharf ist ein Historiker, der in den vergangenen Jahren immer wieder mit profunden Beiträgen zur Geschichte der Spätantike hervorgetreten ist. Sowohl in kleinen Monographien als auch in zahlreichen Aufsätzen hat er sich mit den Geschehnissen vor allem des römischen Westens während dieser Epoche auseinandergesetzt.1 Seine Arbeiten zeichnen sich dabei stets durch grossen Scharfsinn und die Bereitschaft aus, auch einmal die Position des Aussenseiters in der Forschung zu beziehen.2 Doch auch, wo dies der Fall ist, und sich der Konsens der Forschung bisher nicht auf die Ergebnisse Scharfs verständigen konnte, sind dessen Studien doch stets anregend und seine Argumente in vielen Fällen bedenkenswert.
So ist es auch bei dem hier anzuzeigenden Buch “Der Dux Mogontiacensis und die Notitia Dignitatum. Eine Studie zur spätantiken Grenzverteidigung”. Der etwas spröde Titel täuscht über die vielfältigen Themenbereiche hinweg, denen sich die Studie Scharfs auf über 300 Seiten widmet. Tatsächlich ist sie nicht nur den einschlägigen Passagen des berühmten spätantiken Dokuments zum Mainzer Dukat gewidmet, sondern zahlreichen Aspekten der weströmischen Geschichte zwischen ca. 350 und 425 n.Chr. als solcher.
Schon im ersten Teil des Buches (“Vorgeschichte”, S. 9-59) gibt der Autor einen Überblick über die Grenzpolitik des Imperiums am Rhein von der Usurpation des Magnentius bis zum Tode Valentinians I. Es folgt in Teil II (“Das Kapitel des Dux Mogontiacensis in der Notitia Dignitatum”, S. 61-111) eine detaillierte Analyse der Passagen der Notitia Dignitatum, die dem Dux Mogontiacensis gewidmet sind, also dem Befehlshaber der römischen Grenztruppen am Rhein zwischen den heutigen Ortschaften Andernach und Seltz. In Teil III (“Ereignisse und Truppenbewegungen 395-425”, S. 113-149) bespricht Scharf die Ereignisgeschichte des Weströmischen Reiches zwischen den Jahren 395 und 425, wobei auch hier sein Augenmerk selbstverständlich auf Fragen der Grenz- und Verteidigungspolitik liegt. Es folgen Passagen, die dem Verhältnis des Dux Mogontiacensis zu anderen, übergeordneten militärischen Befehlshabern der gallischen Prätorianerpräfektur (z.B. Magister equitum Galliarum, Comes Hispaniarum etc.) gewidmet sind (“Das Verhältnis der Truppenlisten ND occ. V und VI zu ND occ. VII”, S. 151-183). In Teil V und VI beschäftigt sich Scharf mit den einzelnen Truppenteilen, die dem Mainzer Dux laut Notitia Dignitatum unterstellt waren. Zunächst wertet er die Informationen aus, die uns die Ziegelstempel der einzelnen Einheiten zwischen Andernach und Seltz bereitstellen (“Die Ziegel der Mainzer Truppen”, S. 185-219); dann trägt er alle Bausteine zusammen, über die wir zur Erstellung einer Geschichte der Mainzer Truppen verfügen (“Geschichte der Mainzer Truppen”, S. 221-282). Der abschliessende Teil VII (“Das Mainzer Dukat, die Notitia und der Westen des Reiches”, S. 283-316) bietet Zusammenfassendes zur Geschichte und Struktur des Mainzer Dukates sowie Überlegungen Scharfs zum Zweck der Notitia Dignitatum in ihrer überlieferten Form. Das Buch endet mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis (S. 317-347) und einem Register (S. 349-352).
Im Zentrum von Scharfs Darlegungen steht immer wieder das Problem, worum es sich bei der sogenannten Notitia Dignitatum, einer unserer zentralen Quellen für das spätrömische Heerwesen, eigentlich handelt, und wie ihre Informationen chronologisch und inhaltlich in unser aus anderen Zeugnissen geschöpftes Wissen eingeordnet werden können.3 Gerade im Hinblick auf die Interpretation der das Westreich betreffenden Passagen des Dokuments ist dies eine entscheidende, schwer zu lösende Frage, denn ND occ. fixiert nicht einen einheitlichen, zu einem bestimmten Zeitpunkt erstellten und später nicht mehr veränderten Informationsstand; sie ist vielmehr offensichtlich auch nach dem Tode Theodosius’ des Grossen 395 an einzelnen Stellen, wenn auch uneinheitlich und zu unterschiedlichen Zeitpunkten, aktualisiert worden. Scharf glaubt nun, durch seine Studien nachweisen zu können, dass die letzte Redaktion von ND occ. 422/23 n.Chr. erfolgt ist, und dass das Gesamtdokument in Gestalt eines Prachtkodex am 20. November 423 dem weströmischen Usurpator Johannes anlässlich seiner Thronbesteigung überreicht worden ist (S. 309ff., bes. 315f.).
Es würde zu weit führen, im folgenden nun die Beweisführung, die Scharf zur Untermauerung seiner These entwickelt, im einzelnen nachzuvollziehen. Von der Stichhaltigkeit der Argumente muss sich jeder Leser selbst überzeugen lassen (oder auch nicht). Statt dessen beschränke ich mich auf einige Beobachtungen, die ich im Verlauf meiner Lektüre gemacht habe.
Scharf schreibt auf S. 183: “Ausgangspunkt der Datierung der verschiedenen Kommanden und Teillisten war der enge Zusammenhang zwischen der in occ. VII aufgeführten Armee des Comes Hispaniarum und den ausserhalb der Notitia überlieferten Ereignissen und Nachrichten aus Spanien. Dadurch konnte die Existenz einer Spanienarmee auf die Jahre 418-423 eingegrenzt werden.” Von den ND-occ.-Aussagen hinsichtlich des Comes Hispaniarum schliesst der Autor dann übrigens auf die entsprechenden Passagen zum Dux Mogontiacensis (S. 308f.) und Comes Britanniarum (S. 173ff.). Auch die sie betreffenden Stellen der Notitia Dignitatum seien um dieselbe Zeit herum in ihre heute vorliegende Form gebracht worden.
Scharf versucht also, die Aussagen der Notitia Dignitatum mit den ausserhalb von ihr überlieferten Ereignissen in Übereinstimmung zu bringen und, davon wiederum ausgehend, Rückschlüsse auf das Wesen und die chronologische Fixierung des Dokuments zu ziehen. Nun ist unsere Überlieferung für den von ihm behandelten Zeitraum, zumal in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts, keineswegs lückenlos. Können wir wirklich, angesichts der Tatsache, dass nach 420 kein Comes Hispaniarum mehr in unseren Quellen fassbar ist, davon ausgehen, dass es dieses Amt auch nicht mehr gegeben hat (vgl. S. 155ff.)?4 Mit gleichem Recht könnte man den Magister equitum praesentalis aus der spätrömischen Militärverwaltung wegstreichen. Über viele Jahre hinweg kennen wir im 5. Jahrhundert keinen Träger dieses Amtes: Dann erscheint in unserem Quellenmaterial um 440 wie aus dem Nichts der Heermeister Fl. Sigisvultus.5
Scharf will solche Unbilden unserer Überlieferung an verschiedenen Stellen nicht in Betracht ziehen, und das verleiht seinen Thesen von der Entstehung und Gestaltung der Notitia Dignitatum, aber auch seiner Darstellung der weströmischen Grenzpolitik von 350 bis 425 dann ihre eigentümliche Geschlossenheit, eine Geschlossenheit, die im einzelnen teuer erkauft wird: Da kann es dann schon einmal dazu kommen, dass Sachverhalte, die noch eben als unklar und zumindest kompliziert diskutiert wurden, einige Seiten später als fraglose Gewissheit daherkommen.6 Abweichende Forschungsmeinungen werden im Fussnotenapparat zwar dokumentiert, doch die Auseinandersetzung mit ihnen ist oft nicht argumentativ, sondern begnügt sich mit blosser Distanzierung oder Zustimmung an sich. Überhaupt ist Scharf nicht unbedingt immer gnädig mit seinen Mitforschenden, wenn er ihre Leistungen taxiert. Das beginnt schon in der Einleitung, wo er Kritik an der zeitgenössischen Notitia-Dignitatum-Forschung übt (S. 6f.), und zieht sich bis zum Schluss durch (z.B. 221, 225 u. 309ff.).
Ich fasse zusammen: Vielleicht hätte eine thematische Bescheidung dem Buch Scharfs gut getan. Eine Geschichte der weströmischen Grenzpolitik unter besonderer Berücksichtigung des Mainzer Dukats zu schreiben und gleichzeitig das schon seit Generationen in der Forschung erörterte Problem der Notitia Dignitatum zu lösen, war vielleicht zu viel auf einmal gewollt. Scharf hat mit seinen Ausführungen einmal mehr gezeigt, dass es gute Gründe gibt, davon auszugehen, dass auch nach Stilichos Tod 408 n.Chr. Veränderungen in der Notitia Dignitatum vorgenommen worden sind. Ob das uns vorliegende Dokument aber wirklich exakt auf das Jahr 422/23 datiert werden kann, ob sich die Ereignisse an der weströmischen Rheingrenze genau so zugetragen haben, wie sie der Autor mit einem beträchtlichen Argumentationsaufwand dargelegt hat, kann und wird bezweifelt werden. Die Ungewissheit darüber, was die Notitia Dignitatum eigentlich ist und wie sie in ihren einzelnen Bestandteilen zusammengestellt worden ist, ist einfach (noch) zu gross, als dass man endgültige Antworten auf diese quaestiones vexatae geben könnte. Wenn deshalb ein beträchtlicher Teil der Forschung weiterhin dafür eintritt, die zivile und militärische Verwaltung des Imperiums nicht vorwiegend von der Notitia Dignitatum ausgehend zu erforschen,7 so ist das nur zu verständlich und sogar geboten.
Notes
1. Unter den Monographien nenne ich aus jüngster Zeit R. Scharf, Foederati. Von der völkerrechtlichen Kategorie zur byzantinischen Truppengattung, Wien 2001. Eine Reihe von Einzelstudien zur Spätantike hat Scharf unter dem Titel Spätrömische Studien. Prosopographische und quellenkundliche Untersuchungen zur Geschichte des 5. Jahrhunderts nach Christus, Mannheim 1996 publiziert.
2. Siehe z.B. R. Scharf, Die “Apfel-Affäre” oder gab es einen Kaiser Arcadius II.?, ByzZ 83, 1990, S. 435-450 (Postulierung der Existenz eines Kaisers Arcadius’ II. als Sohn Theodosius’ II. und der Eudocia) und dens., Die “Gallische Chronik von 452”, der Fall Karthagos und die Ansiedlung der Burgunder, in: R. Scharf, Spätrömische Studien, Mannheim 1996, S. 37-47 (Ansiedlung der Burgunder in der Sapaudia nicht 443, sondern bereits 438 n.Chr.).
3. In dieser Hinsicht kann Scharfs Buch durchaus als eine — wenn auch nicht eben leicht lesbare — Einführung in alle die Notitia Dignitatum betreffenden Fragen dienen; vgl. insbesondere die Literaturüberblicke auf S. 1ff. u. S. 309ff.
4. Im übrigen kennen wir aus der Spätzeit Valentinians III. sehr wohl einen Comes Hispaniarum, nämlich einen gewissen Mansuetus; siehe Hyd. chron. 155 (s.a. 452).
5. Siehe PLRE II Fl. Sigisvultus mit Bezug auf Novell. Valent. 6,1 (20.3.440) u. 9 (24.6.440). Tatsächlich schliesst Scharf von der Nichterwähnung eines Amtsträgers des magisterium equitum praesentale auf die Nichtbesetzung des Amtes, z.B. für die Zeit des Patricius und späteren Kaisers Constantius nach 413/14: “Das Magisterium equitum Galliarum war zu dieser Zeit ebenso vakant wie das Magisterium equitum praesentale.” (S. 303)
6. An einem Beispiel sei dies verdeutlicht: Auf S. 136 erwägt Scharf, ob der in Greg. Tur. Franc. 2,9 genannte Alanenkönig Respendial unter Berufung auf die ältesten Handschriften der “Historia Francorum” Gregors von Tours nicht vielleicht als rex Alamannorum anzusprechen sei. Er entscheidet sich an dieser Stelle nicht ausdrücklich, aber auf S. 143 heisst es dann: “Dazu gehören auch verbündete Alamannen, die man wohl mit den Mannschaften des Respendial gleichsetzen kann”. Scharf hat sich nun also doch für die alamannische Herkunft des Respendial entschieden, denn das “wohl” bezieht sich lediglich darauf, dass die vermeintlichen Respendial-Alamannen mit barbarischen Kriegern zu identifizieren seien, die im Winter 410/11 in Nordgallien zugunsten des Usurpators Konstantin (III.) mobilisiert wurden. Nebenbei sei bemerkt, dass eine alamannische Herkunft Respendials ganz unwahrscheinlich ist. Sein Name ist iranischer Herkunft (siehe F. Justi, Iranisches Namenbuch, Marburg 1895, s.v.
7. “Nicht vorwiegend” bedeutet ja eben keinesfalls eine gänzliche Ignorierung der Notitia Dignitatum als Quelle; es wird nur bestritten, dass diese uns beim gegenwärtigen Wissensstand als alleiniger, alle anderen Quellen von vornherein ins zweite Glied weisender Ausgangspunkt zur Erforschung der zivilen und militärischen Strukturen des spätrömischen Imperiums dienen kann; in diesem Sinne mit anderen T. Stickler, Aëtius. Gestaltungsspielräume eines Heermeisters im ausgehenden Weströmischen Reich, München 2002, 9f.