BMCR 2006.04.28

Response: Karanasiou on Mahoney on Argyri G. Karanasiou, Die Rezeption der lyrischen Partien der attischen Tragödie in der griechischen Literatur

Response to 2004.05.08

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In ihrem bündigen aber prägnanten Review gelang Mahoney, die Anhaltspunkte meiner Studie treffend aufzufassen, auch wenn das bedeutende Kapitel zur aristophanischen Rezeption auf unerklärliche Weise von ihr ausser Acht gelassen wurde. In der Tat, wenn im oben angeführten Buch mehr Fragen gestellt als beantwortet werden, geschieht dies nur aus dem Prinzip, den potentiellen Leser nicht im voraus mit Pauschal-Antworten als leichte Kost zu versorgen, sondern vielmehr ihn die im Laufe der Recherche entstehenden Fragen im Rahmen der kapitelweise erfolgenden Einzelinterpretation sowie des allgemeinen Überblicks über die Ergebnisse im abschliessenden Kapitel für sich allein entschlüsseln zu lassen.

Jedoch kann ich Mahoneys Formulierung bezüglich meiner Arbeit this is a curious book gleich zu Beginn ihrer Buchbesprechung nur zustimmen. Denn folgende Merkmale des Buches rechtfertigen sie durchaus. An erster Stelle wirkt sein äusseres Bild auf den Leser befremdlich: seine Struktur weist keinen zusammenhängenden Text auf, wie von einer akademischen Studie normalerweise erwartet wird. Ausserdem ist an zweiter Stelle die Statistik unerlässlich, was die Erschliessung eines möglichst umfangreichen Materials fordert, damit diese überhaupt repräsentativ ist. Dabei sind lediglich vollständige Verse als einzig zählbar relevant; vage Umschreibungen oder blosse Anspielungen auf Dichter und Dramen, die sich nicht als Zitate erkennen lassen, scheiden aus. Aufgrund dieser Berechnungen zuliebe kommt es zu einer Fülle an Informationen, die das Lesen des Werkes gelegentlich erschweren. Demnach ist es nahe liegend, dass der intended reader der Studie der sachkundige klassische Philologie ist, der mit einem fundierten Wissen über die griechische Tragödie sowie mit einem soliden Apparat von Grundkenntnissen über die diversen Gattungen der spätantiken Literatur ausgerüstet ist. An den unerfahrenen “undergraduate” Leser richtet sich diese Arbeit bestimmt nicht, obwohl ihm die reichliche wie anschaulich gegliederte Bibliographie und das Autorenregister doch zugute kommen. Trotzdem hätte nach Mahoneys Vorschlag ein zusätzliches Register, nämlich ein Dramenverzeichnis, das Buch mit Sicherheit lesefreundlicher gestalten können.

Weil sich die Recherche an ein Publikum von Kennern wendet, gehen weder den drei Hauptteilen der Rezeptionsperioden historische Informationen voran, noch begleiten spezifische Details zum Stil oder zum Autor die einzelnen Kapitel der unterschiedlichen literarischen Gattungen. Deswegen wurde ferner auf eine Übersetzung der betreffenden Zitate bewusst verzichtet. Denn der Schwerpunkt der Analyse liegt in der vorsichtigen Zusammenstellung der Textstücke und in der formalen Auswertung dieser Resultate, folglich in der Analyse der Funktion der Zitate in ihrem neuen Kontext und ihr Verhältnis zum Original. Die Schlüsselfrage der Problematik ist, ob die lyrischen Zitate in der griechischen spätantiken Prosa in Analogie zum Rückgang der lyrischen Partien auf der spätantiken Bühne ebenso für die Buchliteratur an Bedeutung verloren. Die Ergebnisse widersprechen dieser Annahme; die lyrischen Tragödienzitate bleiben genau wie die nicht lyrischen ein fester Bestandteil der spätantiken Literatur und bereichern sie mit der Autorität einer längst als Klassik geltenden attischen Tragödie. Denn die späteren Autoren zitieren nicht dieses oder jenes Drama, sondern vor allem den einen oder anderen Tragiker, und zwar ungeachtet dessen, ob die zitierten Stellen aus Sprech- oder Liedpartien stammen. Die Zitate selbst sind Beweise des Wandels der Tragödie von einer lebendigen Theaterkunst in Buchliteratur, denn sie zeugen von ihrem Nachleben, aber nicht mehr als Bühnengeschehen, sondern als Lesetext. Dabei bleibt das Elementarste dieser Kunst — das Wort, der Text — doch erhalten, wenn auch in der fragmentarischen Form von Zitaten.

In diesem Werk wurden ausserdem weder fertige Theorien angewandt noch neue aufgestellt. So umfangreich die Recherche sein mag, vermag sie trotzdem nicht für sichere Schlüsse zu garantieren, da sich von der Zählung der Verse einmal abgesehen die rezeptionsgeschichtliche Situation pro Einzelfall oft im Bereich der plausiblen Vermutung, wenn nicht sogar der Spekulation bewegt. Mit Recht rechnet Mahoney dem Buch weder als Versäumnis noch als Defizit an, dass es keine Trend-Analyse enthält, denn sie erkennt richtig als eine von vorn herein bewusst getroffene Entscheidung der Autorin, sich von einer solchen Interpretation lieber fern zu halten. Da aber in ihrem Review der Begriff Trend genannt und so wenn auch e contrario mit der Untersuchung doch assoziiert wurde, ergibt sich die durchaus legitime Frage, ob überhaupt und in wiefern sich die Suche nach Trends in einer Recherche, deren Gegenstand eine indirekte Überlieferung ist, als aussagekräftig erweist.

Ist es eigentlich zulässig, einen literaturtheoretischen Begriff wie Trend, entnommen dem Bereich der protogenen literarischen Produktion und somit einer Rezeptionsform, die ausschliesslich zwischen Literaten und Leser zustande kommt, ohne jegliche Differenzierung auch im Bereich der Tragödierezeption anzuwenden? Denn die betreffende Recherche untersucht weder die Reproduktion von Tragödien in Papyri-Sammlungen noch die Produktion von neuen Tragödien. Demzufolge ist in diesem Fall der Erwartungsaustausch zwischen Dramatiker und Lesepublikum oder das freie kreative Spiel zwischen Innovation und Norm einer direkten literarischen Rezeption nicht gegeben. Denn wenn die Rede von Zitaten ist, verkompliziert sich die Sachlage enorm. Der Begriff Rezeption ist hier nicht mehr eindeutig, sondern nimmt eine ganz neue Dimension ein.

Dabei ist die Eigentümlichkeit der hier gemeinten Rezeption vor Augen zu halten. Erstens handelt es sich um eine Fach-Literatur. Auch Athenaios, der eigentlich der doxographisch gefärbten, so genannten Buntliteratur angehört, zitiert aus der Tragödie nach demselben Prinzip, das für die philosophischen Traktate auch gilt. Lukian ist der einzige, der Literatur im heutigen Sinne betreibt: bei seinen Tragödienparodien dienen die Zitate als Mittel der Imitation. Aber selbst bei ihm erfüllen die Zitate in seinen philosophischen Abhandlungen dieselbe Funktion wie bei Plutarch. Zugegeben, es gibt eine gemeinsame Basis: ein Reservoir an Versen und Inhalten, ein beinahe endloser Stoff, der — sei es in seiner Originalfassung oder je später meistens vermittelt durch Anthologien und Lexika — allen Prosa-Autoren zugänglich ist und sie mit Zitiergut reichlich versorgt. Alle Autoren wenden beim Einführen eines Zitats in ihren Text fast dieselbe Vorgehensweise an. Das allein genügt aber nicht, um Trends zu etablieren. Denn nicht alle greifen auf dieselbe Weise auf das attische Drama zurück. Sie stehen nicht in derselben Relation zu ihren Zitatenquellen, zu den Dramen. Ein jeder von ihnen ist an erster Stelle an die Bedingungen der von ihm repräsentierten Gattung fest gebunden, anders der Geograph, der Philosoph, der Anthologist oder der Lexikograph. Das Interesse eines jeden an der Tragödie ist zweifelsohne da, jedoch ungleich: den Geographen interessieren Ortsbeschreibungen und Toponymen, den Philosophen Theorien, den Anthologisten Allgemeinweisheiten, den Lexikographen Worttypen und Etymologien. Der einzige Trend, der sich daraus ergibt, ist lediglich die allgemeine Anerkennung der Tragödie, ihres Sprech- wie Liedtextes, als Klassik. Zweitens ist es eine indirekte Rezeption, die aber auf einer ebenso indirekten Überlieferung basiert. Mit indirekter Rezeption ist das Phänomen der Übernahme von Tragödienzitaten in der Prosa eines Autors zu verstehen. Unter indirekter Überlieferung wird hingegen das Zurückgreifen der Prosa-Autoren auf Zwischen-Quellen wie auf frühere Autoren oder meistens auf Anthologien gemeint. Gerade weil die thematische Nähe beider Texte — des poetischen der Tragödie sowie des prosaischen des zitierenden Autors — von elementarer Bedeutung ist, spielen insofern die ebenso thematisch gegliederten Zitatensammlungen von Florilegien eine signifikante Rolle. Denn sie bieten antiken Autoren eine hervorragende Vorarbeit bei der Suche nach dem trefflichen Zitat an. In diesem Fall schöpft der zitierende Autor nicht unmittelbar vom Tragiker, was bedeutet, dass er die Textauswahl grundsätzlich nicht selbst trifft, sondern dass diese oft von der Vorwahl einer Anthologie abhängig ist. Das betrifft in der Regel Zitate, die einen gnomenhaften Charakter aufweisen und wiederholt sowie fast unverändert bei mehreren Autoren vorkommen. Auch wenn dies nur eine plausible Vermutung bleibt, ohne einen handfesten Nachweis, deutet jedoch die hohe Wahrscheinlichkeit eines solchen Überlieferungszweigs in gewissem Grade auf die Vorherbestimmung des rezipierenden Autors bei seiner Zitatenauswahl hin. Diese Begebenheit widerspricht der freien Entfaltung einer literarischen Vorliebe des jeweiligen Prosa-Autors. Demnach ist die Bezeichnung Trend zwar nicht ganz falsch, kann aber nur bedingt gelten. Dennoch ist selbst in diesem Fall kein Dogmatismus angebracht. Denn eine solide Kenntnis der klassischen Literatur ist den gelehrten Autoren der Spätantike allerdings zuzutrauen, was die totale Abhängigkeit von den Anthologien beim Zitieren doch einschränkt. Sonst müsste die Rede von einer Zitaten-Fabrik sein. Gerade die lyrischen Zitate, und gerade wenn diese keinen Popularglauben verkünden, dürfen als ein durchaus glaubwürdiges Indiz für eine direkte Übernahme vom Original gelten. Ausserdem ist der genauen Situation des Zitierens schwierig nachzugehen. Denn, ob ein Autor unmittelbar aus dem Original schöpfte, ob er es vor Augen hatte oder aus dem Gedächtnis zitierte, lässt sich nicht mehr nachweisen. Die Nennung des Dramatikers beim Zitieren und manchmal des Dramas, aus dem das Zitat stammt, besagt per se nichts über eine direkte oder indirekte Beziehung des rezipierenden Autors zum Original. Dies allein vermag keine Kenntnis des Originals zu beweisen; ausser nur dann, wenn mehr vom Original preisgegeben wird, der Sprecher der zitierten Verse zum Beispiel im betreffenden Stück oder die dramatische Situation, aus der das Zitat herausgelöst wurde.

Das Dritte was die Trendproblematik in der hier besprochenen Recherche als nicht zutreffend und wenig überzeugend erscheinen lässt, ist die Motivation der Zitierenden: sie bleibt in dieser Art Rezeption grundsätzlich dieselbe. Denn sie zitieren nicht aus Gewohnheit oder um einer literarischen Tendenz treu zu bleiben, sondern um die eigenen Argumente zu untermauern und ihnen durch die Autorität der inzwischen als Klassiker geltenden Tragiker — Aischylos, Sophokles, Euripides — Allgemeingeltung zu verschaffen. Die einzige Grundvoraussetzung bei der Auswahl einer bestimmten Passage als Zitat ist die inhaltliche Affinität zwischen zitiertem Text und dessen neuen Kontext.

Viele weitere Gründe sprechen gegen eine Trendtheorie. Einige aus rein rechnerischen Problemen wie: A) Eine Trend-Analyse, die grundsätzlich nur Aischylos, Sophokles, Euripides einbezieht, wäre unzureichend; alle Zitate aus allen Tragikern müssten dazu herangezogen werden. Die jambischen Zitate werden zwar in der Statistik erfasst, damit deren Werte so überhaupt einen Sinn ergeben, aber nicht näher in der Studie behandelt, denn sie sind nicht der eigentliche Gegenstand dieser Untersuchung. Aber eine Trend-Forschung, die lediglich auf lyrischen Zitaten basiert, wäre einseitig. B) Zumal ein grosser Teil der antiken Literatur — sei es die Originale der Tragödienproduktion oder die hier als Quellen geltenden Schriften der Prosa-Autoren — verloren gegangen ist, wäre die Rede von Trends wenn nicht ganz unglaubwürdig, so doch mindestens ein ziemlich heikles Unterfangen. Von der Zielsetzung der Untersuchung her ist folgender Grund zu nennen: C) Obwohl hier ein Rezeptionsfall untersucht wird und dementsprechend die Aufteilung des Buches in Perioden, Gattungen und Autoren erfolgt, geht die Interpretation nicht von den zitierenden Autoren aus und ihrer subjektiven Stellung der Tragödie gegenüber, was eine Trendproblematik auch erklären würde, sondern von den Zitaten selbst und der Form von deren Nachleben. Trends gehörten damit nicht zum Hauptanliegen des Werkes, da der Schwerpunkt eher auf den Versuch einer Rekonstruktion des Verhältnisses zwischen Zitat und Original verlagert wird. Was die Thematik nun betrifft, sind die beiden folgenden Gründe in Betracht zu ziehen: D) Die Wiederholung von gewissen Motiven wäre beinahe trendverdächtig, aber gerade weil die Thematik der Zitate so unvorstellbar variiert, wäre ein solcher Versuch dubiös. E) Dass gewisse Dramen immer wieder als Zitatenquelle in Frage kommen, wäre wenigstens ein Zeichen für ihre Popularität. Dennoch hängt das Motiv des Zitierens vom jeweiligen Kontext ab und nicht von der vermeintlichen Beliebtheit eines Stückes. Als letzter Grund ist ausserdem der Zeitfaktor bezüglich einer Trendsuche in dieser bestimmten Studie zu berücksichtigen: F) Die rezipierenden Autoren sind mehrere Jahrhunderte voneinander entfernt. Ein Trend wäre von seiner Definition her kurzlebiger und rasch veränderbar; hierbei wären Jahrzehnte oder wenigstens einzelne Jahrhunderte sinnvoller zu untersuchen und nicht eine Zeitspanne, die vom Hellenismus bis hin zu Byzanz reicht.

Zu den positiven Punkten der Untersuchung zählen folgende handfeste Ergebnisse: A) Die Vorliebe für die euripideischen Zitate durch die ganze Kaiserzeit hindurch sowie für die sophokleischen bei den Lexika der byzantinischen Periode ist eine offensichtliche Tatsache. B) Die Mehrheit der Zitate stammt aus heute nicht mehr vollständig erhaltenen Tragödien. C) Die Erwähnung von lyrischen Zitaten hängt grundsätzlich von ihrem Inhalt und nicht von ihrem Stil ab. Dass diese in ihrer poetischen Sprache den Prosatext des jeweiligen Rezipienten auflockern, stellt nur einen Nebeneffekt dar. Vielmehr werden sie als Argumente in einer beliebigen Problematik angeführt und deswegen sind sie weder Textzierde noch Textfüller, sondern tragen zur Überzeugungstrategie eines jeden Prosa-Autors erheblich bei.

Zum Schluss dürfte es klar sein, dass, wenn ein Autor gewisse Themen bei seinen Zitaten vorzieht, er dies nicht tut weil er einem bestimmten Trend folgt, sondern weil die Überlieferung ihn mit einer Fülle an jenen oder diesen Themen versorgt und vor allem weil es ihm der konkrete Kontext seiner Schrift diktiert. Sinnvoller sowie ergiebiger wäre ferner, eine Trendsuche in homogenen Schriften pro Gattung und vielmehr im Bereich der rein kreativen Literatur wie im Roman, Epos oder Drama selbst zu unternehmen. Denn, wie diese Studie zeigte, lassen sich in heterogenen Werken aus diversen Gattungen sowie Jahrhunderten keine Trends zuversichtlich definieren. Das Gegenteil wäre pure Theorie oder eine den Texten fremde und vom Forscher eigenwillig aufgesetzte Norm.