BMCR 2005.05.57

Deiokes, König der Meder – Eine Herodot-Episode in ihren Kontexten. Oriens et Occidens 7

, Deiokes, König der Meder : eine Herodot-Episode in ihren Kontexten. Oriens et occidens ; Bd. 7. Wiesbaden: Steiner, 2004. 99 pages ; 25 cm.. ISBN 9783515085854. €28.00.

[Autoren und Titel der Beiträge sind am Ende der Besprechung aufgelistet.]

Die Erforschung jener Epochen der altorientalischen Geschichte, für die Herodots Historien unsere zentrale Quelle bilden, hat sich mit einer äußerst schwierigen, weil methodisch überaus komplexen Aufgabe auseinanderzusetzen. Auf der einen Seite steht nämlich das Bemühen, Herodots Bericht als Geschichtsquelle zu nutzen, indem man all das eliminiert, was dem gestalterischen Willen des Autors geschuldet ist und die historischen Tatsachen entstellt. Andererseits geht es darum, die Prinzipien dieses Gestaltens zu ergründen, indem man Herodots Schilderung an der historischen Realität mißt, soweit diese anderweitig überliefert ist. Im vorliegenden Band dienen, vereinfachend gesagt, der Beitrag von J. Wiesehöfer dem ersten, die Beiträge von M. Meier, B. Patzek und U. Walter dem zweiten Ziel. Wiesehöfer resümiert im wesentlichen Ergebnisse eines Kolloquiums, das 2001 in Padua stattfand und in dem man sich, insbesondere vor dem Hintergrund von Herodots Medischem Logos, kritisch mit der Frage nach der einstigen Existenz eines medischen Reiches auseinandersetzte.1 Die drei anderen Artikel zielen auf die von Herodot eingesetzten gestalterischen Mittel, seine pädagogischen Absichten und seine wissenschaftliche Fragestellung und Diagnose, wobei die Deiokes-Erzählung jeweils den Ausgangspunkt bildet.

Bei der Verfolgung der angesprochenen Ziele — Erkenntnis der historischen Tatsachen in einem stark durch die Intentionen des Autors geprägten Werk einerseits und Beschreibung von Herodots gestalterischen Mitteln vor dem Hintergrund unserer lückenhaften historischen Kenntnisse andererseits — stößt man besonders dort an Grenzen, wo die Überlieferungslage diese Aufgabe zu einer Gleichung mit zwei Unbekannten macht. Daß der Weg zu einem wissenschaftlichen Konsens in jedem Falle äußerst langwierig ist, mag das Beispiel der Verfassungsdebatte im 3. Buch der Historien lehren,2 die U. Walter als Paradebeispiel für ein von Herodot in die Ereignisgeschichte eingebundenes konjekturales Element betrachtet (S. 75-78). Hierin kann man dem Autor nach Ansicht des Rez. nur zustimmen, denn der Alte Orient kannte zwar Herrscher-, aber keine Herrschaftskritik, stellte die Monarchie also nie in Frage. Dies aber wäre die Voraussetzung für eine Kontroverse, wie Herodot sie schildert. Trotzdem wurde der Streit um die richtige Verfassung noch unlängst als historisch durchaus vorstellbar qualifiziert.3

Unter diesem Aspekt mag man sich die Frage stellen, ob die Deiokes-Erzählung, da sie Teil der weitgehend unbekannten und zur Zeit äußerst kontrovers diskutierten medischen Geschichte ist, nicht denkbar ungeeignet ist, um eine Vorstellung von Herodots Arbeitsweise zu vermitteln.

Der Abriß, den J. Wiesehöfer im ersten Beitrag bietet, gibt hauptsächlich jene Sicht wieder, die Herodots Medischen Logos als Quelle für die geschichtliche Realität weitgehend verwirft und Übereinstimmungen zwischen der Primärüberlieferung und Herodots Bericht — etwa im Falle der Hauptakteure beim Untergang Assyriens zwischen 614 und 609 v. Chr. und beim persisch-medischen Konflikt zwischen 560 und 550 v. Chr., Umakistar / Kyaxares und Istumegu / Astyages — für ganz und gar punktuell hält (S. 20 f.). Dem steht aber, abgesehen von jenen Auffassungen, die z. B. durch die Arbeiten von W. Nagel,4 und I. M. Diakonoff,5 prominent vertreten werden, im vorliegenden Band jedoch so gut wie keine Berücksichtigung finden, die Ansicht gegenüber, daß die Primärüberlieferung und Herodots Bericht konvergieren. Der Übergang von den gut belegten Stadtherren, die noch im 1. Drittel des 7. Jh. belegt sind, zu den (Ober-)Königen Umakistar / Kyaxares und Istumegu / Astyages ist in Herodots Medischem Logos nämlich ebenso zu finden, wie die eben angesprochenen historischen Situationen des späten 7. und mittleren 6. Jh. v. Chr., in denen letztere Schlüsselrollen spielten. Und auch die Funktion Ekbatanas als Hauptstadt, als welche es im Zusammenhang mit dem persisch-medischen Konflikt in der Nabunaid-Chronik,6 erwähnt wird, hat bei Herodot ihren Niederschlag gefunden, denn eine der ersten Handlungen, nachdem Deiokes auf seinem konsequenten Weg zur Alleinherrschaft ans Ziel gelangt ist, sind die Gründung und der Synoikismos von Ekbatana. Angesichts dieser “Konvergenz” ist es gewiß sinnvoll, noch einmal zu betonen, daß Herodots Deiokes nicht mit dem Mannäerfürsten Daiukku identisch ist (S. 16 f.), auch wenn dies schon lange communis opinio ist.7

Genau dieser Punkt, die Historizität des Deiokes, ist nun im Beitrag von M. Meier die crux. Meier führt aus, daß Herodots bahnbrechende Leistung darin bestand, historisches Geschehen einer nicht allzu fernen Vergangenheit, namentlich die Perserkriege, anschlußfähig gemacht zu haben an die Mythistorie, die als die eigene “fundierende Geschichte” akzeptiert gewesen sei (S. 31-33. 40). Nun verliert Meier zwar nicht aus dem Auge, daß Herodot ein Unterschied zwischen Mythos und Geschichte nicht bewußt war, und betont, daß er diesen Gegensatz lediglich als “heuristisches Instrument” aufrechterhalte (S. 33); gleichwohl erscheint es dem Rez. fraglich, ob es richtig ist, Herodots wesentliche Leistung als die Überwindung einer Kluft zu beschreiben, die dieser als solche gar nicht wahrnahm.

Herodot habe einerseits mythische Figuren in alltäglicher Normalität erscheinen lassen, wozu die Mythenkritik eines Hekataios den Weg gebahnt hatte, andererseits habe er die geschichtliche Normalität mythisiert und dadurch mit der Mythistorie verbunden. Als Beispiel dafür, daß Herodot “einen mythhistorischen Vergangenheitsentwurf von der Frühzeit bis in die Zeit der Perserkriege” entfaltete (S. 40), ist die Deiokes-Geschichte jedoch wenig geeignet, denn die Mythisierung setzt, zumal wenn Solon als Parallelbeispiel bemüht wird (S. 30 f.), eine historische Figur von Rang als Vorlage voraus. Dafür kommt der mannäische Duodezfürst Daiukku gewiß nicht in Betracht,8 und Meier will sich, was dessen Rolle als historische Inspiration für Herodots Figur betrifft, auch nicht festlegen (vgl. S. 30. 46).

Besser nachvollziehbar sind Meiers Hinweise darauf, daß zur Zeit Herodots die Tendenz, die jüngere Vergangenheit, namentlich die Perserkriege, zu mythisieren, allgemein verbreitet war, lieferte die große Auseinandersetzung doch Tragödienstoffe,9 wie dies in der Vergangenheit nur mythische Themen getan hatten, und fand die Schlacht bei Marathon ihren Platz in der Stoa Poikile in Athen neben einer Amazonomachie und einer Iliupersis.10 Daß sich diese Tendenz auch im Werk Herodots niederschlug, weil die Perserkriegsgeneration allmählich ausstarb und in weiten Kreisen der griechischen Gesellschaft das Gefühl Platz griff, daß jene Vorgänge jetzt vor dem Vergessen bewahrt werden müßten (S. 42-46), leuchtet ein und fügt sich gut zu verschiedenen der als Wurzeln der griechischen Geschichtsschreibung benannten Faktoren (vgl. S. 33-35). Allerdings war Herodot hier eingebunden in eine Entwicklung, die auch von anderen Autoren, so von Hellanikos von Lesbos und Charon von Lampsakos, getragen wurde, welche gleichfalls über die Perserkriege geschrieben haben sollen.11

Besonders fruchtbar für das Verständnis von Herodots Arbeitsweise sind die Beiträge von B. Patzek und U. Walter, zumal sie sich gegenseitig ergänzen. Patzek greift das eingangs beschriebene Kernproblem mit der Frage, “was den historischen Erzähler Herodot eigentlich ausmacht, ob sich erzählerischer Gestaltungswille und historische Tatsachenorientierung miteinander verbinden” (S. 53), unmittelbar auf. Sie führt zu Recht aus, daß die “Verpflichtung gegenüber der Tatsächlichkeit eines besonderen geschichtlichen Geschehens” einerseits das Spezifikum der historischen Erzählung sei, daß aber andererseits die Kausalität der Erzählung, die von ihrem Endpunkt her bestimmt werde, Selektion und Verknüpfung der erzählerischen Elemente diktiere (S. 56 f.). Die Frage, welche Quellen Herodot zur Verfügung standen und wie viel historische Realität in seine Erzählung einging (S. 64-67), bleibt naturgemäß vielfach strittig, wie Patzeks Ausführungen zur mutmaßlichen vorstaatlichen Organisation der Meder zeigen können. Ihr zufolge waren sie “wie alle Nomaden und Halbseßhaften nach Stämmen organisiert” (S. 67). Zur Frage, ob die Meder Nomaden waren oder nicht, geben jedoch beispielsweise die Beiträge zum Paduaner Kolloquium höchst unterschiedliche Antworten.12

Bezüglich des fabula docet von Herodots Bericht macht Patzek die Niederlage und die Unterlegenheit der Perser in ihrer Auseinandersetzung mit den Griechen als bekannten, die athenischen Hegemoniebestrebungen und die damit verbundenen politischen Probleme als “verborgenen” Endpunkt aus, beides zu verstehen als Variationen des Themas “Entwicklung von Herrschaft in der Zeit” (S. 58 f.). So wäre die Deiokes-Erzählung Teil einer rationalisierenden Gedankenführung, die die Ursprünge einer solchen Herrschaft, nämlich der persischen Monarchie, erklärt. Deiokes ist die Schöpfung des Erzählers, und ihm wird wie in einem Gründungsmythos die Schaffung “eines historischen Staates in der Form der persischen Monarchie” zugeschrieben (S. 70).

U. Walter macht den von Patzek umrissenen gestalterischen Anteil an der historischen Erzählung im Detail anschaulich, indem er die patterns aufzeigt, durch die Herodot dem Leser die Gesetzmäßigkeit der Faktoren, die “die Entstehung, den Wandel und den Verlust von Macht” (S. 75; vgl. auch Patzek S. 59) bestimmen, habe verständlich machen wollen. So würden dem Zuhörer mit Peisistratos, Deiokes und Dareios I. verschiedene Varianten einer politischen Grundkonstellation präsentiert (S. 89). Alle drei Genannten erschienen als politische Manipulatoren (S. 88 f.), und die Deiokes-Erzählung erweise sich in ihrem Ablauf als Variation der Peisitratiden-Geschichte (S. 90). Die Spitzel des Deiokes und sein Rückzug aus der Öffentlichkeit bildeten Parallelen zu den “Augen” und “Ohren” des persischen Königs und der Art, wie dieser Distanz zu seiner Umgebung hielt (S. 89. 91 f.). In diesen Brückenschlägen werde der gestalterische Wille Herodots faßbar, und in diesen Bezügen sei die Deiokes-Geschichte ein lehrreiches Beispiel für seine Arbeitsweise. Wenn Walter schließlich darauf hinweist, daß Herodot mit der Behauptung, der äußere Mauerring Ekbatanas habe den gleichen Umfang gehabt wie die Mauern Athens, die Gedanken seiner Zuhörer auf die problematische Rolle der griechischen Stadt im Attischen Seebund lenken wollte (S. 91 f.), greift er Patzeks Annahme wieder auf, daß der Zuhörer Gelegenheit zu eigenen Assoziationen haben sollte (S. 59).

Die Schwierigkeit, historisches Wissen aus einer Quelle abzuleiten, deren Umgang mit historischer Faktizität erst allmählich verstanden wird, bleibt bestehen. Aber besonders, wenn B. Patzek lehrt, auch Textpassagen, die sich als Ausdruck einer mündlichen Kultur geben, als Element schriftlicher Textgestaltung zu verstehen (S. 53-55) oder wenn U. Walter Verfassungsdebatte und Deiokes-Geschichte dahingehend parallelisiert, daß hier das “Rationalitätspotential” deutlich werde, das Herodot den Persern und ihren Vorgängern offensichtlich unterstellte und das bestimmte Züge seiner Erzählung bedingte (S. 77-79), werden Fortschritte erkennbar. Insgesamt gesehen bietet der Band mit seinen vier Beiträgen eine gute und willkommene Ergänzung zu den beim Paduaner Kolloquium1 abgehandelten historischen Fragen.

Autoren und Titel der Beiträge

Josef Wiesehöfer, Daiukku, Deiokes und die medische Reichsbildung, S. 15-26.

Mischa Meier, Die Deiokes-Episode im Werk Herodots – Überlegungen zu den Entstehungsbedingungen griechischer Geschichtsschreibung, S. 27-51.

Barbara Patzek, Die Deiokes-Erzählung im Rahmen der Persergeschichten Herodots: eine konsequente Reihe historisch-erzählerischer Sinngebung? S. 53-73.

Uwe Walter, “Da sah er das Volk ganz in seiner Hand.” – Deiokes und die Entstehung monarchischer Herrschaft im Geschichtswerk Herodots, S. 75-95.

Notes

1. G. Lanfranchi / M. Roaf / R. Rollinger (Hrsg.), Continuity of Empire(?) – Assyria, Media, Persia, History of the Ancient Near East / Monographs V (Padua 2003).

2. Hdt. III 80-82.

3. A. Panaino, Herodotus I, 96-101: Deioces’ Conquest of Power and the Foundation of Sacred Royalty, in: Lanfranchi / Roaf / Rollinger a. O. 331.

4. W. Nagel, Ninus und Semiramis in Sage und Geschichte – Iranische Staaten und Reiternomaden vor Darius, Berliner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte, Neue Folge 2 (Berlin 1982).

5. I. M. Diakonoff, Media, in: I. Gershevitch (Hrsg.), The Median and Achaemenian Periods, The Cambridge History of Iran II (Cambridge et al. 1985) 36-148.

6. A. K. Grayson, Assyrian and Babylonian Chronicles, Texts from Cuneiform Sources V (Locust Valley, N.Y. 1975) 106: Chronicle 7, II 3.

7. Nagel a. O. 104; R. Schmitt, Encyclopaedia Iranica VII (Costa Mesa 1996) s.v. Deioces.

8. St. Brown, The Mêdikos Logos of Herodotus and the Evolution of the Median State, in: A. Kuhrt / H. Sancisi-Weerdenburg (Hrsg.), Method and Theory – Proceedings of the London 1985 Achaemenid History Workshop, Achaemenid History III (Leiden 1988) 76.

9. Allerdings hatte Phrynichos mit der “Einnahme Milets” bereits vor Ausbruch der Perserkriege ein historisches Thema auf die Bühne gebracht (vgl. Meier S. 42). Zu Herodots Beziehungen zur Tragödie siehe jüngst E. Kornarou, The Tragic Herodotus?, in: V. Karageorghis / I. Taifacos (Hrsg.), The World of Herodotus – Proceedings of an International Conference Held at the Foundation Anastasios G. Leventis, Nicosia, September 18-21, 2003 (Nicosia 2004) 307-319.

10. Paus. I 15, 2-3.

11. O. Lendle, Einführung in die griechische Geschichtsschreibung – Von Hekataios bis Zosimos (Darmstadt 1992) 67 f. 71 f. 271; O. K. Armayor, Herodotus, Hecataeus, and the Persian Wars, in: V. Karageorghis / I. Taifacos (Hrsg.), The World of Herodotus – Proceedings of an International Conference Held at the Foundation Anastasios G. Leventis, Nicosia, September 18-21, 2003 (Nicosia 2004) 321-335.

12. Vgl. die Besprechung von B. Jacobs, Archäologische Mitteilungen aus Iran und Turan 37, 2005.