Das Buch enthält die schriftliche Fassung der ersten Vorlesungen der Autorin am Collège de France, wo sie seit 2017 den Lehrstuhl für „Religion, histoire et société dans le monde grecque“ innehat. Vinciane Pirenne-Delforge, die zuvor besonders durch ihre Studie zur griechischen Aphrodite (1994) und über Pausanias und die griechische Religion (2008) sowie zahlreiche Artikel zur griechischen Religion in Erscheinung getreten ist, ist Professorin am Collège de France in Paris, wo sich auch (für alle frankophonen) eine Video-Version der Vorlesungen auf der Homepage des Collège de France befindet.
Das handliche Buch schließt sich thematisch an ihre Antrittsvorlesung – publiziert 2018 als „Le polythéisme grecque comme objet d’historie“ (englische Übersetzung).
Im ersten Teil der Einleitung erläutert die Autorin, dass sie in ihrem Buch vor allem eine Reflexion über die Pluralität anstelle, welche die Bezugnahme auf den Begriff „Polytheismus“ rechtfertige, um das zu beschreiben, was wir „la religion grecque“ nennen (11). Während ihrer jahrelangen Studien über die Beziehungen der Griechen zu ihren Göttern ist der Autorin aufgefallen, dass die Spannung zwischen „unité et pluralité, entre général et particulier“ (11) in der Tat konstitutiv waren für diese Beziehungen und damit für die Gesamtdarstellung der griechischen Welt selbst (11). Man denke nur – neben den griechischen Dialekten und den vielen Poleis – an die vertrauten Namen der Götter und deren vielfältige lokale Verankerung.
Der Polytheismus sei sicherlich „topisch“, also lokal in einem Territorium verankert gewesen, doch die kulturelle Kompetenz derjenigen, die ihn lebten, überstieg den lokalen Bereich – sei es bei der Darstellung der Götter oder beim Vollzug von Ritualen. Mit Blick auf diese Spannungen stellen sich mehrere wichtige Fragen, so z.B. die im ersten Kapitel unternommene Klärung der Begriffe „religion“ und „polythéisme“. Soll von griechischer Religion im Singular oder Plural gesprochen werden? Lösen sich die „figures divines“ auf in der Vielfalt der Orte, wo sie Verehrung finden, oder soll ihnen ein besonderes Profil zugeschrieben werden, das auf einer weiteren Skala erkennbar ist? Basieren Opferhandlungen („les actes sacrificiels“) nur auf strikt lokalen Praktiken oder gab es einen Hintergrund, der von allen griechischen Gemeinschaften geteilt wurde? Eine solche Fragestellung sollte es erlauben, gewisse grundlegende Aspekte des Funktionierens zweier wesentlicher Komponenten des griechischen Polytheismus zu erkennen: die Darstellung der Götter und die Opferschritte.
Diese Fragen ihrer Untersuchung verbindet die Autorin mit den Historien Herodots, die als roter Faden dienen, um jedoch auch weitere Texte wie poetische oder inschriftliche, vor allem aus der archaischen und klassischen Zeit, heranzuziehen. Im zweiten Teil der Einleitung weist sie auf die hermeneutischen Herausforderungen hin, die das Verstehen von „griechischer Religion“ über die Jahrhunderte verdunkelt und begleitet haben: angefangen bei den Kirchenvätern bis zur Religionsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, wie dies exemplarisch an der intellektuellen Genese der monumentalen „Geschichte der Griechischen Religion“ von Martin P. Nilsson veranschaulicht wird.
Im ersten Kapitel werden die beiden zentralen Konzepte „Religion“ und „Polytheismus“ historisiert und problematisiert. Wie bereits der Titel (der ursprünglichen Vorlesung) und seine Anspielung auf den Essay von Michel Foucault („Les mots et les choses“, 1966) nahelegen, beschäftigt sich das Kapitel geistes- und forschungsgeschichtlich mit diesen beiden Konzepten; dieser historische und theoretische Überblick, der nachzeichnet, wie aus Worten Konzepte und teils problematische Forschungsbegriffe werden, ist von besonderem Interesse für alle, die zur antiken Religionsgeschichte arbeiten. Darin erläutert die Autorin zuerst das in seiner Verwendung viel problematisierte Konzept „Religion“ in seiner Anwendung auf die antike (griechische) Welt zunächst ausgehend vom lateinischen Wort „religio“, zweitens den weniger umstrittenen Terminus „Polytheismus“ (32-46) in seinen Wandlungen und Verwendungen von Aischylos über Philon von Alexandrien, den Taxinomien der Kirchenväter über Budé und Bodin.
Religio spiegele im lateinischen Kontext die Notwendigkeit wider, der Komplexität der Welt mit Umsicht zu begegnen. Ausgehend von Cicero wird die Übernahme und Anverwandlung des Konzepts durch die frühen Christen nachgezeichnet, die in Auseinandersetzung mit der religiösen Welt eine Neubestimmung des Begriffs vornehmen, insbesondere Tertullian, Laktanz und Augustinus, so dass von einer „vera“ religio die Rede sein kann. Diese erste Erörterung des Konzepts endet mit einem Sprung ins 16. Jh., wo bei der Entdeckung der ‚Neuen Welt‘ die spannende Frage aufgeworfen wird, ob es auch andere „Religionen“ geben könne. Ausgangspunkt für die Erhellung des Terminus „Polytheismus“ ist zuerst Aischylos, bei dem das Adjektiv „polutheos“ zuerst (als Hapax) in den Hiketiden in einem sakralen Kontext belegt ist. Die weitere Geschichte des Wortes setzt mit dem jüdischen Philosophen und hellenistischen Kommentator Philon von Alexandrien ein. In seinen Kommentaren zur Septuaginta, besonders des Pentateuch, finden sich „la croyance ou le mal polythéiste“ (he polutheos doxa, to polutheon kakon) sowie das neue Substantiv „polutheia“: die Pluralität der Götter im Gegensatz zum ersten Gebot des Dekalogs (35). Bei Philon finde sich eine Dichotomie zwischen göttlicher Monarchie, die zum „Monotheismus“ des 16. Jh. werde, und polutheia, einer göttlichen Pluralität und „ochlocratie“ (38), die den Polytheismus argumentativ und als „croyance fausse“ (pseudes doxa) in die Nähe des Atheismus stelle (37). Während sich die jüdische Vision des Göttlichen durch den Gegensatz definiere, suchten die christlichen griechischen Autoren der ersten Jahrhunderte wie Clemens von Alexandrien und Eusebius danach, eben diesen Gegensatz mit ihren Taxinomien weiter zu bestimmen. Ein Exkurs zu dem Gräzisten und Gründer des Collège de France, Budé, und dem Juristen Bodin, zeigt, wie diese auf die griechischen Texte Philons und der Kirchenväter zurückgreifen und die Nähe von polutheos und atheos betonen.
Nach weiteren perspektivenreichen Ausführungen werden beide Konzepte zuletzt als Arbeitskonzepte beschrieben und definiert (54-57). Beim Terminus „Religion“ greift Pirenne-Delforge auf eine Definition des Anthropologen Melford Spiro aus dem Jahr 1966 zurück, die besonders auf Religion als „Institution“ mit ihren Interaktionen einer „supra-humanen“ Sphäre abhebt (55).
Das zweite Kapitel zu Herodot als eines „témoin privilégié de ce que nous appelons religion et polythéisme grecs“ soll dazu dienen, diese Komplexität zu durchdringen (57). Dieses Kapitel ist für alle von Interesse, die zu Herodot arbeiten und sich insbesondere dafür interessieren, wie sich dieser zur Geschichte des Polytheismus verhält. Seine Historien werden im zweiten Kapitel für einen Tauchgang in dieser Frage benutzt. Doch warum Herodot? Er bietet eine Vielfalt an Material bezüglich Religion, angeordnet nach einer spezifischen Ausrichtung des Autors v.a. in Abgrenzung zur homerischen epischen Tradition in Bezug auf die Götter, aufgrund der „kulturellen Übersetzung“, die dann zum Ausdruck komme, wenn er die Traditionen anderer Völker beschreibe. Im Anschluss an Hartog (1980) geht Pirenne-Delforge davon aus, dass die ethnographischen Beschreibungen zumindest negativ ein Bild der Darstellungen und Praktiken dessen bieten, was als „griechische Religion“ bezeichnet werden könne (62). Zudem zeige sich in den Perserkriegen aus griechischer Sicht in den letzten fünf Büchern die Spannung zw. Einheit und Diversität bei der Darstellung der Götter der Griechen.
In einem ersten Schritt wird am Beispiel der Perser-nomoi die zentrale Bedeutung des Terminus nomos herausgestellt, die zu Beginn über die Götter (Hdt. 1.131) und das Opfer (Hdt. 1.132) Auskunft geben. Pirenne-Delforge weist vor allem auf die hellenozentrische Perspektive hin: durch den Kontrast mit den griechischen Praktiken und Konzepten werde die Beschreibung organisiert, was zumindest unterschwellig die nomoi der Griechen in dieser Hinsicht bestimme. Das Ensemble an Elementen umfasse insbesondere eine gewisse Darstellung der Götter, eine präzise Identität für die Götter und deren Namen, bestimmte Handlungen, um in Beziehung zu diesen Göttern zu gelangen und eine Art von Diskurs, der mit einem rituellen Prozess assoziiert wird, einer Art „Theogonie“, deren Inhalt Herodot nicht enthüllt (65).
Darauf geht es um Herodot als Historiker des griechischen Polytheismus. Wichtige Gesichtspunkte sind der bei ihm zu beobachtende kulturelle Relativismus, die Maxime, sich an die menschlichen Dinge zu halten, die Frage nach der Herkunft der griechischen Götter und die Rückkehr zu den „Affaires divines“ (84).
Hdt. 1.131 lässt eine griechische Konzeption der Götter mit Blick auf das, was die Perser tun, erkennen: dabei qualifiziert das Adjektiv „anthropophues“ („de complexion humaine“) die Art und Weise wie die Griechen sich ihre Götter und deren Darstellung vorstellen mit Blick auf die Einrichtung von Statuen, Tempeln und Altären (69). Aus dieser Affirmation Herodots werden zwei Besonderheiten der griechisch nomoi in Bezug auf die Götter abgeleitet, wie sie Herodot betrachte: die Götter bilden wirklich eine Gemeinschaft mit den Menschen, die sie empfangen, und ihre traditionelle Darstellung ist eng mit den Praktiken verbunden, d.h. Ritual und Repräsentation sind unauflöslich miteinander verbunden (69-70).
Herodot gebe vor, sich an die „menschlichen Dinge“ zu halten. Im Kontrast zum Epos sei er nicht von den Musen inspiriert und inszeniere auch keine Götter als solche, selbst wenn er vom „Göttlichen“, „dem Gott“ oder „den Göttern“ sprechen könne. Pirenne-Delforge lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass sich der Autor, wenn eine göttliche Handlung evoziert wird, hinter einer Erzählung verstecke, die er jemand anderem zuschreibe. In seinem eigenen Namen führe er nicht diese Art von Rede. Seine eigene Rede von Autorität gründe sich auf menschlichen Mitteln und auf der menschlichen Erfahrung, die den Kern seiner Bedenken – auch bezüglich des Religiösen – ausmache. Vor diesem Hintergrund versteht Pirenne-Delforge zwei zentralen Aussagen des zweiten Buches über Ägypten (Hdt. 2.3, 2.65), welche die Stellungnahme Herodots zu diesem Thema – den theia bzw. theia pragmata – betreffen: dass sich Herodot nicht um göttliche Dinge („affaires divines“) kümmere, und, wenn er es doch tue, sich auf das beschränke, wozu ihn die Erzählung zwinge. Er halte sich also an die „affaires humaines“ (ta anthropeia pragmata, Hdt. 2.4). Im selben Buch würde sich Herodot an vielen Stellen dementsprechend zurückhalten, was unterschiedlich verstanden werden könne (Zurückhaltung als Zeichen von Frömmigkeit, als methodischer Agnostizismus à la Protagoras oder Zurückhaltung als Prinzip der Unsicherheit dem Polytheismus innewohnend).
Herodot sei weder Seher noch Dichter, sein Anliegen sei kein theologisches, vielmehr ein anthropologisches – in dem Sinne, dass er insbesondere die Perspektive der Menschen (nicht der Götter) aufnehme. Da jedoch die Menschen viel über Götter und Heroen sprechen und gleichermaßen viel von ihnen erwarten, sind die Götter sehr gegenwärtig in den Historien, da sie Teil der „affaires humaines“ seien (85). Mit Blick auf das Verständnis von Hdt. 2.3 schließt sich Pirenne-Delforge der These an, dass alle Menschen gleichermaßen wenig über die göttlichen Dinge wissen (86). Die griechische Religion, gesehen bei Herodot, sei ein Ensemble der bei den Griechen eingerichteten nomoi, um die Beziehungen mit der „sphère supra-humaine“ zu regieren; eben diese wurden mit Blick auf die Bestandteile und Kontouren von denselben Griechen im Laufe der Zeit ausgearbeitet (93).
Im dritten Kapitel stellt sich die Frage nach den griechischen Göttern und der religiösen Dimension des Griechentums. Bei der Frage nach Herodot und seiner Beziehung zu den griechischen Göttern werden auch einige Stellen aus dem „Iliadischen“ Teil der Historien (Historien 5-9, inbes. Hdt. 8.144) untersucht. Eine besondere Bedeutung kommt dem Hellenion in Naukratis im ägyptischen Delta zu, das in Hdt. 2.178 erwähnt wird. Die Befunde aus Herodots Text kontrastiert Pirenne-Delforge mit weiteren Heiligtümern und dort bezeugten Göttern, indem sie insbesondere inschriftliche Befunde und Keramik-Scherben mit Widmungen einbezieht. In einem weiteren Schritt widmet sie sich den zwölf Göttern als Ausgangspunkt des Vergleichs (vgl. Hdt. 2.4.).
Das vierte Kapitel widmet sich den Namen und Bezeichnungen der griechischen Götter. Jeder Gott erscheine zwar im Plural, doch bis zu welchem Punkt? Die Argumentation führt über die Anrufung und Exegese in literarischen Texten, z.B. zu Herodots Kroisos (Hdt. 1.44) und zur Einheit des Zeus, über Sokrates in der Darstellung Xenophons (Mem. VIII.9) zur Einheit des Zeus. Zentral sind hier die Pluralität und rituelle Normen, für das kultische Leben göttliche Bezeichnungen und Opferkalender. Epigraphische Dokumente lassen das religiöse Leben lokaler Gemeinden, wie der zwei attischen Demen Thorikos und Erchia, als ein noch viel reicheres und komplexeres Ensemble verstehen als die Texte der handschriftlichen Überlieferung. Die Verkäufe von Priesterschaften seien weitere Dokumente anderer Art, die einen bestimmten Tag gewisser lokaler Kulte erhellen.
Im fünften Kapitel wird mit einem Blick auf die Rituale gefragt, was die griechischen Kommunitäten auf einem geteilten Hintergrund vereint und was sie unterscheidet. Was ist das Fundament davon. Zuerst stellt Pirenne-Delforge die Frage nach einem Opfer-Raster bzw. Rahmen, den sie ausgehend von den Homerischen Epen, bei Aristophanes und Menander findet. Aber auf was für einen Opfer-Typ beziehen sich diese Texte? Der Vergleich zeige zu viele Vergleichspunkte, so dass man von einem Opfer-„Raster“ oder „Rahmen“ (une „tame sacrificielle“) sprechen könne. Pirenne-Delforge versteht darunter eine „structure minimale“ verbunden mit dem Wort für Opfer des klassischen Griechisch, thusia (140), d.h. eine allgemeine rituelle Operation, jenseits ihrer lokalen Ableitungen, so wie der Eigenname Zeus auf eine Allgemeinheit von Zeus jenseits seiner einzelnen Manifestationen verweise (141), vergleichbar einer „Opfergrammatik“ (F. Graf). Mit diesem Blick soll ein Zeugnis aus dem ersten Buch Herodots untersucht werden. Untersucht wird – nochmals en Detail – das im ersten Buch beschriebene Opfer bei den Persern, dieses Mal vor allem ex negativo, d.h. mit Blick auf die Elemente, die sich für das griechische Opfer, genauer ein „Opfer-Raster“ für das griechische Opfer, daraus gewinnen lassen. Mit Hilfe Homers und Aristophanes ist es möglich, zu einer vollständigen Liste über den diachronen Opferprozess zu gelangen. Diese Liste konstruiert die Etappen des nomos der Griechen mit Blick auf die thusia. Die allgemeinen Informationen über die thusia finden sich auch in hunderten von rituellen Vorschriften eingraviert auf Stein oder Metall in vielen Regionen der griechischen Welt. Vor einem Blick auf diese Besonderheiten wird einer dieser präskriptiven Texte untersucht: eine Inschrift, die ausdrücklich einen Bezug auf ein Opfer gemäß dem „griechischen Nomos“ bietet (145). Interessant ist die folgende Kontrastierung der Beschreibung des Opfers mit epigraphischen Befunden aus Griechenland, insbesondere mit einer Inschrift des 2. Jh. v. Chr. aus Marmarini (Thessalien), die eine Reihe an Opfer- und Reinigungsritualen im Heiligtum einer anonymen Gottheit aus dem Nahen Orient vorschreibt. Die Inschrift enthält einen wichtigen Passus mit der Wendung, wer der Göttin „nach griechischer Tradition“ opfern wolle. Pirenne-Delforge argumentiert dafür, dass das Verbrennen des göttlichen Teils am Altar und die Aufteilung der Eingeweide unter den Opfernden der kleinste gemeinsame Nenner für eine thusia nach der griechischen Tradition sei. Dies zeige bereits die hexametrische Formel der homerischen Dichtung, welche die beiden Operationen verbinde („als die Schenkel völlig verzehrt waren und man die Eingeweide gekostet hatte“, vgl. Homer, Il. 1,464 und 2,427). Im Folgenden wird die Buntheit lokaler Traditionen, z.B. mit Blick auf lokale und spezielle Bräuche und Abweichungen im Umgang nicht zuletzt mit den Eingeweiden für die Götter und die Priester herausgestellt.
Das Fragezeichen des sechsten Kapitels („Croire aux dieux?“) wurzelt in der semantischen Ambiguität des Verbes „croire“ und des kulturellen Determinismus, den dieses Verb versteckt durch seinen impliziten Bezug auf ein „credo“ habe (161). Es folgt zunächst eine forschungsgeschichtliche Diskussion dieses problematischen Terminus in seiner Verwendung für die griechische und römische Religionsgeschichte, die gegen Ende 20. Jahrhunderts mit den Termini „belief“ und „believer“ (64) wiederbelebt wurde.[1]
Mit der Formel Nomizein tous theous kehrt die Diskussion wieder zu den Historien Herodots zurück: nochmals zu Hdt. 1.131 (den Perser-Nomoi) und zu den Skythen (Hdt. 4.59). Um den Ausdruck besser zu verstehen, ist ein Umweg über einen Nacheiferer („un émule“) Herodots, Pausanias, nötig, in dessen Periegese dieser Ausdruck – sieben Jahrhundert später – untersucht wird. Drei Beispiele sollen zeigen, dass auch bei Pausanias die Bezeichnung eines Gottes im Kern die Identifikation eines göttlichen Profils ausmacht, dass sich darauf verbreitet – mit oder ohne ein Orakel. (171). Das Verb nomizein umfasse – im Anschluss an Fahr (1969) – bei Herodot zwei Dimensionen: die der Repräsentation (die ounoma) und die der Kulte. (172) Die Anerkennung betreffe also ein Wissen und eine Praxis. Die Argumentation des Sokrates in den Memorabilia Xenophons zeige ebenso, dass nomizein tous theous beide Register umfasse, das der Repräsentation und der Handlungen/praxis, die beide eng miteinander verzahnt seien (174-178). Darauf zeigt Pirenne-Delforge mit Beobachtungen zum attischen Drama, v.a. Euripides, dass auch das Verb hegeisthai in der Konstruktion mit dem Akkusativ theon oder theous sehr nahe am Ausdruck nomizein tous theous sei.
Von Glauben im Sinne von „croyances“ könne zwar die Rede sein, aber im Plural und im Wissen, dass damit nur eine kognitive Dimension angesprochen sei, die durchaus Raum für Zweifel und für Meinungen lasse. Pirenne-Delforge bezieht sich dabei auf das Konzept der „spekulativen Dynamik“ der Anthropologin Roberte Hamayan, das den Vorteil habe, das Spezifische und den Reichtum des nomizein tous theous berücksichtigt und auch das der verschiedenen Register – narrativ und kultisch, wo diese eine solche Dynamik ausüben.
Das Göttliche bleibe grundsätzlich „inconnaissable“ und die Art und Weise mit dieser Situation umzugehen, bestehe darin, die Zugänge zu vervielfältigen. Um über „le monde supra-humain“ zu sprechen und in Beziehung zu ihren Bestandteilen zu kommen, hätten die Menschen der Antike eine Reihe von Strategien angenommen, wie z.B. Plutarch in seinem griechischen und römischen Fragen (184). Im Anschluss an Plutarch gelte in diesem Bereich nicht eine strikte Logik des Nicht-Widerspruchs: vielmehr sei es die Multiplikation der Gesichtspunkte, die zu hoffen erlaube, diese zu umschreiben oder zumindest sich ihr anzunähern (184-5). Pirenne-Delforge behält den Terminus „Religion“ für den griechischen Polytheismus bei; wenn von „croyances“ die Rede sei, dann im Plural, aber „le croyant“ sei zu verbannen, da er die absolute Priorität dem Mentalen vor der Handlung gebe, was verfälschend sei (195). Die kultischen Kontexte sind hauptsächlich lokal, und mit dieser lokalen Verankerung beschäftigt sich das letzte Kapitel über die Pluralität des Polytheismus.
Das letzte Kapitel widmet sich zwei Episoden bei Herodot um Kleomenes, den König der Spartaner: zum einen in Athen auf der Akropolis (Hdt. 5.72), zum anderen im Heraion in Argos (Hdt. 5.81), wo beabsichtigte Opfer und bestimmte Zeichen eine zentrale Rolle spielen. So geht es in Athen z.B. um das Verbot der Priesterin, Kleomenes dürfe als Dorer nicht den Tempel betreten, und die Tatsache, dass sich Kleomenes als Achaier ausgibt. Die herodoteischen Befunde werden mit den Verboten für Fremde in epigraphischen Zeugnissen, insbesondere aus Delos, Paros und Mykonos über den Ausschluss angeführt und verglichen. Was hat es in Athen zu bedeuten, dass sich Kleomenes als „Achaier“ ausgibt? Durch den Vergleich mit dem sechsten Gesang der Ilias – dem Gebet der Frauen zu Athena in Troja – wird deutlich: während dort der spartanische König Menelaos die Stadt einnehmen kann, erwartet zwar auch Kleomenes ein „Ja“, bekommt aber von der Priesterin ein „Nein“.
Ein lesenswertes und informatives Buch für alle diejenigen, die gerne mehr über den griechischen Polytheismus wissen und über die Herausforderungen seiner wissenschaftlichen Erforschung lernen wollen. Dabei zeigt sich die Autorin mit ihrer langjährigen Erfahrung von ihrer besten Seite, wenn sie epigraphische Zeugnisse und Texte ins Gespräch mit Herodots Erzählung bringt oder mit großer Aufmerksamkeit und Sorgfalt bestimmte Phänomene der griechischen Götterwelt – greifbar sowohl in literarischen Texten der griechischen Antike, insbesondere bei Homer, Herodot und Pausanias als auch in inschriftlichen Quellen – in einer immer um Klarheit bemühten Zusammenschau untersucht.
Notes
[1] Vgl. zur Diskussion dieser Frage mit Blick auf Herodot v.a. T. Harrison, Divinity and History (2000) und die Einführung bei A. Schwab, Fremde Religion in Herodots Historien (2020: 17-22).