BMCR 2023.04.30

Johann Jakob Bachofens gesammelte Werke V: archäologische Schriften

, , , Johann Jakob Bachofens gesammelte Werke V: archäologische Schriften. Basel; Berlin: Schwabe Verlag, 2020. Pp. 616, 18 pp. of plates. ISBN 9783796500114.

Mit den „Archäologischen Schriften“ ist nun der letzte Band der Gesammelten Werke Bachofens erschienen, deren Edition 1943 unter der Ägide von Karl Meuli begonnen hatte. Sie enthalten eine Abhandlung Bachofens über das lykische Volk aus dem Jahre 1862, das in der ein Jahr zuvor erschienenen Mutterrechtsstudie eine zentrale Rolle spielt. So bilden doch die antiken Überlieferungen zur Benennung der Lykier nach der Mutter den zentralen Beleg für Bachofens These von der ursprünglich mutterrechtlichen Verfasstheit der alten Welt. Aufgenommen wurden daneben Studien über die Rolle des Bären in den antiken Religionen (1863), zur Römischen Wölfin (1867–1869) und zur Bedeutung des Würfels und der Hände in den Gräbern der Alten (1858 und 1861).

Während die meisten Bände der auf 10 Bände angelegten Edition in den 1940er und 1950er Jahren erschienen, musste die Edition der Archäologischen Schriften wie zuvor die Reiseberichte und die Autobiographie bis ins zweite Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts warten. Diese nahezu achtzig Jahre währende Editionsgeschichte hat ihre Tücken. Das Interesse an den Forschungen Bachofens, welches einmal Karl Meuli und seine Mit-Editoren bewegte, ist längst verflogen. Die Herausgeber erfüllten lediglich eine Pflicht, zu beenden, was einmal begonnen worden war. So sehr ihre editorische Sorgfalt beeindruckt, so wenig überzeugen die Ausführungen zum Forschungsstand. Das liegt nicht nur daran, dass für die Nachworte zu den einzelnen Schriften auf ältere Abhandlungen längst verstorbener Autoren wie Karl Meuli oder Karl Schefold zurückgegriffen wurde, die immerhin von wissenschaftshistorischem Wert sind. Ein Ärgernis ist das allgemeine Nachwort zur Gesamtedition, das Unkenntnis der Wirkungsgeschichte von Bachofens berühmtestem Werk, „Das Mutterrecht“, und der aktuellen Forschungen zur Sache bezeugt auszeichnet. Warum nach Jahrzehnten differenzierter ethnologischer und althistorischer Forschungen zur Matriarchatsdebatte und zu matrilinearen Praktiken in vergangenen und außereuropäischen Kulturen nur populärwissenschaftliche Positionen wie die von Heide (sic!) Göttner-Abendroth und Carola Meier-Seethaler aus den 1970er und 1980er Jahren erwähnt werden, aber keinerlei neuere ernst zu nehmende Forschungen aus althistorischer oder archäologischer Sicht, ist schlicht nicht nachvollziehbar.[1] Die einschlägigen Lexikonartikel im Neuen Pauly (Bd. 15/1, 2001) haben die AutorInnen nicht konsultiert. Auch Fritz Grafs an sich informatives Nachwort zur Lykienforschung verharrt in der Frage nach der Realität matrilinearer Verwandtschaftspraktiken auf dem Forschungsstand von 1967, als Simon Pembroke seine Deutung der lykischen Matrilinearität als Umkehrprojektion patriarchaler Praktiken der Griechen vorstellte und damit die Provokation, die von Bachofens Thesen ausging, entschärfte. Zumindest Reinhold Bichlers Erklärung wäre hinzuzuziehen gewesen. Er bezieht das Spiel der Verkehrung auf die unterschiedlichen Heiratspraktiken in Athen und auf Kreta. Denn die Matrilinearität bei den Lykiern hat Konsequenzen für den Status der Kinder. So galten Kinder einer freien Frau, die sich mit einem Knecht oder Sklaven verbanden, als edel; Kinder aus Verbindungen eines freien Bürgers mit einer Sklavin oder fremden Frau erhielten kein Bürgerrecht. Nach Bichler bezieht sich Herodot mit diesen Bemerkungen einerseits auf die Überlieferung der kretischen Herkunft der Lykier, wo in der Tat derartige Regelungen inschriftlich nachgewiesen sind, andererseits auf das attische Bürgerrechtsgesetz, das Kindern aus Beziehungen eines attischen Bürgers mit einer Fremden das Bürgerrecht versagte. Es hatte den Zweck, Bündnisse über die Polisgrenzen hinaus, die via Heirat geschlossen wurden, zu verhindern.[2]

Es ist schade, dass die Chance vertan wurde, die altertumswissenschaftlichen Forschungen seit Meulis Neuedition des „Mutterrechts“ von 1948 sichtbar zu machen. Dennoch ist den Herausgebern und Herausgeberinnen zu danken, dass sie diese mühevolle Editionsarbeit auf sich genommen und dabei einige Schätze gehoben haben, die der erneuten Lektüre wert sind. Als Beispiel seien Bachofens Überlegungen zur Symbolik des Spinnens und Webens genannt, die er im Kontext seiner Untersuchung „Über die Bedeutung der Würfel und der Hände in den Gräbern der Alten“ anstellt (S. 216-220), und von denen die jüngere Forschung zur Sache nichts weiß.[3] Auch wenn Bachofens Interpretationsraster, seine Trennung zwischen stofflichem und geistigem Prinzip und seine Einordnung der antiken Idee vom menschlichen Körper als ein gewobenes Kleid in ein tellurisches Weltbild, heute kaum auf Zustimmung stoßen dürfte, so zeigen seine Befunde doch, dass neue Forschungsthemen manchmal eine recht lange Vorgeschichte haben.

 

Notes

[1] Vgl. Brigitte Röder/Juliane Hummel/Brigitta Kunz: Göttinnendämmerung. Das Matriarchat aus archäologischer Sicht, München 1996, sowie Beate Wagner-Hasel, Rationalitätskritik und Weiblichkeitskonzeptionen. Anmerkungen zur Matriarchatsdiskussion in der Altertumswissenschaft, in: Dies. (ed.), Matriarchatstheorien der Altertumswissenschaft, Darmstadt 1992, 295–373.

[2] Reinhold Bichler, Herodots Frauenbild und seine Vorstellung über die Sexualsitten der Völker, in: Robert Rollinger/Christoph Ulf (ed.), Geschlechterrollen und Frauenbild in der Perspektive antiker Autoren, Innsbruck – Wien – München 2000, 13–56, hier: 36.

[3] Vgl. u.a. John Scheid/Jasper Svenbro, Le métier de Zeus: Mythe du tissage et du tissu dans le monde gréco-romain, Paris 1994, engl. 2001; Ellen Harlizius-Klück, Weberei als episteme und die Genese der deduktiven Mathematik, Berlin 2004; Ellen Harlizius-Klück/Giovanni Fanfani, (B)orders in Ancient Weaving and Archaic Greek Poetry, in: Giovanni Fanfani/Mary Harlow/Marie-Louise Nosch (eds.), Spinning Fates and Song of the Loom: The Use of Textiles, Clothing and Cloth Production as Metaphor, Symbol and Narrative Device in Greek and Latin Literature, Oxford 2016, 61–99.