BMCR 2023.01.31

Heteronome Texte: kommentierende und tradierende Literatur in Antike und Mittelalter

, , , , Heteronome Texte: kommentierende und tradierende Literatur in Antike und Mittelalter. Transmissions, 6. Berlin: De Gruyter, 2021. Pp. viii, 269. ISBN 9783110738162.

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Der vorliegende, außerordentlich gehaltvolle Sammelband geht auf zwei Ringvorlesungen an der Universität Jena in den Jahren 2017 und 2018 zurück. Schon von der ersten zur zweiten Vorlesungsreihe wurde der Titel dergestalt geändert, wie er nun als Titel des Sammelbandes erscheint. Ausgangspunkt war und ist die Frage nach der Art von Kommentaren zu verschiedensprachlichen religiösen, philosophischen, juristischen, medizinischen und weiteren Texten der Antike und des Mittelalters. Der Bogen wird dabei von Texten etwa um die Zeitenwende bis ins 13. Jahrhundert geschlagen. Jeder einzelne Beitrag sowie das Gesamtspektrum als Ganzes lassen sich dabei mit großem Gewinn lesen.

Den Auftakt macht eine Einleitung der Herausgeberin und der drei Herausgeber. Neben den Leitfragen für die Vor- und Beitragenden (Umgang mit autoritativen Texten, Gegenwartsrelevanz im jeweiligen Kontext, kulturvermittelnde Wirkung) geben sie eine überblicksartige Zusammenfassung all dessen, was sie unter den Begriff „heteronome“ Texte fassen, also z.B. Glossen und Scholien als Wortkommentare, fortlaufende Kommentare wie commentarius, hypómnema und tafsir, Paraphrasen, Fragen zu Texten (z.B. quaestiones), Kompendia (z.B. epitomé), Fortschreibungen, Enyklopädien, Sammlungen (anthología, florilegium), Widerlegungen, Nachdichtungen, Autorenbiografien, aber auch Übertragungen, die mitunter Interpretationen liefern. Die Bezeichnung „heteronom“ entlehnen sie dabei Kants grundlegender Differenzierung zwischen Autonomie und Heteronomie, um zum Ausdruck zu bringen, dass den benannten Textgattungen das Abhängigkeitsverhältnis zur Vorlage eigen ist.

Peter Porzig gibt eine leicht zu lesende Einführung in das komplexe Problem der Schriftrollenfunde aus Qumran, die hebräische und aramäische Texte aus den etwa 100 Jahren um die Zeitenwende zutage gefördert haben, und interpretiert die dort gefundenen pescharim als kommentierende Texte, die „den eigentlichen Sinn des Bezugstextes ans Tageslicht“ bringen (S. 25). Zugleich verdeutlichen die gemachten Schriftfunde, dass sie noch keine abgeschlossene Kanonbildung kennen und Chiffren noch anders besetzt sind als in späterer Literatur.

Martin Pennitz setzt sich mit Jan Assmanns Definition eines (theologischen) Kommentars auseinander und zeigt auf, dass ein juristischer Kommentar der römischen Zeit mit einer solchen Definition nicht erfasst wird. Die römische Jurisprudenz kenne vielmehr die isagogische Literatur, praktische Kommentarwerke sowie Fallsammlungen. In der juristischen Praxis zeige sich dabei, dass der Rechtstext zu einer Frage dabei keinen „kanonischen“ Rang besitze, sondern vielmehr seine Gültigkeit durch den – kreativen: „durch Interpretation angepasst und erweitert“ (S. 59) – Umgang im Kommentar erlange. Dadurch kann der kommentierende Jurist „mit seiner interpretatio […] zugleich zum gesetzgebenden Organ werden“ (S. 61). Erst Kaiser Justinian hat versucht, diesen offenen Diskurs einzudämmen.

Holger Strutwolf stellt den Kommentar zum biblischen Hohelied aus der Feder des Origenes (185-253/4) vor. Obgleich dieser Kommentar nur teilweise in der lateinischen Übersetzung Rufins erhalten ist, gilt er als einer der beeindruckendsten altkirchlichen Bibelkommentare. Origenes stellt den buchstäblichen sowie den geistigen Sinn des Bibelbuchs heraus: Das Liebesdrama zwischen Braut und Bräutigam wird übertragen auf die Kirche, die zum Gott-Vater betet, und ihren erwarteten Bräutigam Christus. Zugleich spielt in die Exegese auch eine psychologisch-individuelle Auslegung der Seelen der Gläubigen mit hinein, die durch die Geheimnisse des Schrifttextes zu Gott geführt werden. Insofern ist „theologische Schriftexegese die wahre Mystagogie!“ (S. 84)

Silke Diederich stellt den Horazkommentar des Porphyrio aus dem frühen dritten Jahrhundert vor, den sie vor dem Hintergrund des römischen Bildungssystems präsentiert. Der Kommentar enthält alle notwendigen Elemente der geleiteten Dichterlektüre: die lectio als das korrekte Lesen, die emendatio als die notwendige Textkritik, die ennaratio als die nötigen lexikalischen, grammatischen und sachlichen Erklärungen und das iudicium als die literaturkritische Beurteilung. Insbesondere die Erklärungen eröffnen einen Blick auf die Vorlagen, die Porphyrio in unterschiedlichem Maße nutzte: Naturkunde war vergleichsweise schwach vertreten, wohingegen in größerem Maße, aber dennoch eher oberflächlich auf historische und literarische Quellen zurückgegriffen wurde. Das von Porphyrio vermittelte Wissen gehört eher zum unsystematischen Handbuchwissen, durchsetzt mit allerhand Anekdotischem.

Wolfgang Bernard widmet sich dem Politeia-Kommentar des Proklus, der schon in formaler Hinsicht eine Besonderheit aufweist: Es handelt sich um keinen Lemma-Kommentar, sondern um eine Sammlung den Platontext interpretierender Essays. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Literaturkritik Homers durch Platon. „Die Grundintention des Proklos ist dabei, zu zeigen, dass man als Platoniker Homer auch anders interpretieren kann als in der Politeia dargestellt, und dass dann die dort erhobenen Vorwürfe Homer nicht treffen.“ (S. 112) Gegen die Mehrheitsinterpretation der Forschung verteidigt Bernard diesen Ansatz und zeigt auf, dass Proklos ein in sich geschlossenes System einer Dichtungstheorie vorlegt, dass trotz theologischer Defizite (Vorrang Homers vor zeitgenössischer Theologie) bedenkenswert ist.

Stefanie Rudolf stellt das „syrische Medizinbuch“ aus dem 7. oder 8. Jahrhundert vor. Diese Sammlung ist in sich dreigeteilt, der erste Teil überliefert umfangreich den syrischen Galenus, der zweite Teil sammelt prognostische und astrologische Texte, der dritte schließlich Rezeptenlisten. Aus jedem dieser Teile werden Beispiele gegeben.

Andreas Lammer gibt einen umfassenden Überblick über die Aneignung aristotelischer Texte in der arabischen Tradition vor, durch und nach Ibn Sina (Avicenna). Die schon in der griechischsprachigen Philosophie entwickelten Formen der Epitome, der Eisagoge und der Paraphrase werden durch syrische Übersetzungen spätestens ab dem 6. Jahrhundert fortgeführt und finden bald Eingang in die arabischsprachige Kultur, in der bis zu vier Übertragungen aristotelischer Texte angefertigt wurden. Eine Sonderstellung nimmt dabei Avicenna ein, der aus dem Studium der Vorgängerliteratur heraus ein erstes, eigenständiges  System einer theoretischen Philosophie entwarf: Seine Werke ersetzten „die Werke Aristoteles’ vollständig“ (S. 164). In seiner Nachfolge wurden nunmehr Kompendien und Kommentare zu Avicenna verfasst.

David Kästle-Lamparter zeigt auf, wie mittelalterliche juristische Kommentare in den drei Textgattungen der Glosse, der Summe und der Lectura das Justiniansche Corpus Iuris Civilis fortschrieben und aktualisierten, ohne am Grundbestand der Gesetzessammlung zu rütteln. Dabei versteht er „Kommentar“ als einen Text, „der sich strukturell an einen anderen Text anlehnt und diesen fortlaufend erläutert“ (S. 179).

Jörn Müller plädiert dafür, Albertus Magnus nicht als christlichen Aristoteliker und nur als Wegbereiter eines Thomas von Aquin zu sehen, sondern wahrzunehmen, dass er eine „höchst eigenständige philosophische Theoriebildung“ (S. 206) betreibe. Zu diesem Zweck kommentiere er neben anderem den vollständigen, ihm zugänglichen Aristoteles, den er zugleich aber auch problematisiere und eigenständig weiterdenke. So gesehen betreibe er „Philosophie wesentlich im Medium der Philosophiegeschichte und in der Gattung des Kommentars.“ (S. 209) Das kann bei ihm dann auch dazu führen, dass er sich einer Synthese von Aristoteles und Augustinus verschließt und stattdessen die Möglichkeit des Glückserwerbs unabhängig von der Gnade Gottes betont.

Christfried Böttrich schließlich stellt eine kirchenslavische Apokalypse vor, die im Rahmen der Tolkovaja Paleja des 13. Jahrhunderts überliefert ist. Die „Leiter Jakobs“ ist innerhalb dieser altrussischen Historienbibel zwischen Genesis 28,5 und 29,1 eingefügt und deutet die zwölf Stufen der Leiter als zwölf Epochen der Geschichte Israels. Dabei schöpft der Verfasser aus antiken jüdischen Quellen, die jedoch gegen das Judentum ins Feld geführt werden. Damit fügt sich der Text in die größere Tradition der Adversus Judaeus-Literatur ein.

Den Band beschließen Abbildungsnachweise, ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren sowie sehr umfangreiche Register.

Trotz des mosaikartigen Charakters des Sammelbands wird deutlich, dass die Art, Texte zu kommentieren über die Zeiten und Disziplinen hinweg einem steten Wandel unterworfen ist. Trotzdem bleibt das Kontinuum des vorliegenden Textes, der durch die Zeiten hinweg einer Interpretation und Aktualisierung bedarf, bestehen, der so in den verschiedenen Traditionen konserviert wird. In seiner Gesamtheit stellt der Band einen wesentlichen Beitrag zur Kommentarforschung dar und liefert eine wertvolle Grundlage für die Kommentartheoriedebatte.[1]

 

Notes

[1] Der Band ist vergleichsweise gut lektoriert, dennoch fielen kleine Ungenauigkeiten und Druckfehler auf: S. 19 die Jahreszahl „2009“ kann nicht stimmen. S. 22 Anm. 26 ist die Formatierung falsch. S. 106 muss es „werden“ statt „wird“ heißen. S. 136 lies „denen“ statt „derer“. S. 159 Anm. 59 ist die Aussage Maimonides habe philosophische Texte „auf Hebräisch“ verfasst, falsch: er schrieb auf Arabisch. S. 239 Anm. 42 lies: „Heyden (2009)“. S. 30, 31, 79, 135 sind Wörter falsch getrennt.