BMCR 2022.04.10

Elemente der antiken Erzähltheorie

, Elemente der antiken Erzähltheorie. Narratologia, 74. Berlin; Boston: De Gruyter, 2021. Pp. ix, 226. ISBN 9783110725278. $91.99.

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Schon jahrzehntelang bedient sich die Klassische Philologie für Interpretationen antiker Texte narratologischer Kategorien, die im 20. Jahrhundert geprägt worden sind. So zeigt, um nur die wohl bekannteste Publikation zum Thema zu nennen, Irene de Jongs Studie Narratology and Classics (Oxford 2014), mit welchem Gewinn moderne Terminologie auf antike Texte appliziert werden kann. Die vorliegende Monographie fragt, indem sie die, wie Feddern treffend sagt (S. 1), achrone Perspektive klassischer Narratologie aufgibt, anders: Für welche Konzepte und Begrifflichkeiten, die die Narratologie entwickelt hat und die wir heute bereitwillig und gewinnbringend auf eine Vielzahl von Texten anwenden, lassen sich antike Vorläufer finden?

Um sich dieser Frage zu widmen, braucht es Mut: Nicht nur muss man notgedrungen für sich beanspruchen, in Bezug auf die Erzähltheorie die gesamte Literatur der Antike zu überblicken, sondern – und das wiegt fast noch schwerer – es werden im Zentrum der Diskussion häufig gut erforschte Klassiker des Faches, z.B. Platons Ausführungen zum Redekriterium oder umstrittene Textpassagen aus der aristotelischen Poetik, stehen. Allein dafür, diesen Mut aufgebracht und sich der Aufgabe gestellt zu haben, gebührt Feddern Respekt. Sein Buch ist ein wichtiger Beitrag im Forschungsfeld der historischen Narratologie und in einem gewissen Sinn der Versuch, das bisher entbehrte Gegenstück zu de Jongs achroner Narratologie zu liefern.

Die Studie gliedert sich in vier Kapitel: Nachdem der Autor die „Grundlagen der antiken Erzähltheorie“ behandelt hat, widmet er sich der „Ebene der Geschichte“, der „Ebene der Darstellung“ und schließlich der „Wirkung von Erzählungen“.

Ganz allgemein lässt sich über den Aufbau der einzelnen Kapitel sagen, dass sie sich oft wie ein Potpourri an Einzelbeobachtungen lesen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass sich die Kategorien der modernen Narratologie, deren antiken Vorläufern Feddern nachspürt, „kaum auf einen Begriff bringen, sondern nur aufzählen“ (S. 3) lassen. Die insgesamt wenig systematisch wirkende Darstellung ist daher nicht in erster Linie dem Autor anzulasten, stellt aber den Rezensenten vor das Problem, aus der Fülle der Einzelbeobachtungen eine gute Auswahl zu treffen. Dieser Versuch sei im Folgenden unternommen.

Im ersten Kapitel definiert der Autor wichtige Grundbegriffe der antiken Erzähltheorie, so zum Beispiel μίμησις und διήγησις. Zudem enthält das erste Kapitel einen längeren Abschnitt zur literarischen Fiktion. Dies ist prinzipiell begrüßenswert, weil die Übertragbarkeit des narratologischen Begriffsinstrumentariums von einer Einschätzung in dieser Frage abhängt. Hier weist Feddern unter Rekurs auf Aristoteles’ Behandlung der drei genera orationis ein Kommunikationsmodell zwischen Produktions- und Rezeptionsinstanz nach, das sich für faktuale Texte mit dem modernen decke. Allerdings sei die für fiktionale Texte gemeinhin angenommene Verdopplung der Sprachhandlungssituation, in deren Zuge die Erzählstimme als diejenige Instanz eingeführt wird, die den Erzählakt hervorbringt, nicht antik. Indem er sich hierin der Position des Romanisten Andreas Kablitz anschließt,[1] plädiert Feddern dafür, den Begriff des Erzählers sparsam zu verwenden und für homodiegetische Erzählungen zu reservieren, in denen eine (onomastische) Identität von Autor und Erzähler ausgeschlossen ist. Von hier aus erklärt sich nun auch die folgenreiche Auffassung Fedderns, die Erzähltheorie der Antike sei eine Theorie ohne Erzähler (S. 5 u.ö.), der nicht vorbehaltlos zuzustimmen ist (s. dazu unten).

Die Trennung zwischen der „Ebene der Geschichte“ und der „Ebene der Darstellung“ (Kapitel 2 und 3), die Feddern im Folgenden als Gliederung dient, ist kanonisch. Sie findet sich so in gängigen Einführungen zum Thema und bildet, grob gesagt, die in der Narratologie übliche Scheidung zwischen histoire und discours ab.[2] Im zweiten Kapitel behandelt Feddern antike Reflexionen über die Stimmigkeit der Handlung und der Figuren, die Funktion beschreibender Partien in der Erzählung und den Aspekt der Zeit der erzählten Geschichte.

Die heute mehrheitlich diskursorientierte Narratologie freilich wird das dritte Kapitel als Kernstück des ganzen Buches auffassen. Gerade hier werden beachtliche Ergebnisse präsentiert. Überhaupt ist die Studie dort am stärksten, wo sie auf Rezeptionszeugnisse antiker Literatur zurückgreifen kann. Denn da die antike Erzähltheorie keinen unabhängigen Diskurs darstellt, sind oft Kommentare der Ort, an dem über erzähltheoretische Belange reflektiert wird. Im dritten Kapitel wertet Feddern insbesondere die Vergilkommentare des Donat und Servius sowie die Homer-Scholien aus. Hier gelingt der Nachweis, dass Anachronien (Analepsen und Prolepsen) als Kunstgriffe im Repertoire des Dichters durchaus bekannt waren und wertgeschätzt wurden, wohingegen Anachronismen – man könnte mit Genette auch sagen: narrative Metalepsen[3] – problematisiert und den Dichtern als Verstoß gegen die innere Logik der Erzählung angekreidet wurden. Aufschlussreich sind auch die Ausführungen zur Unterscheidung zwischen Autor- und Figurenrede, die mit der Einsicht schließen, dass „sie nicht so konsequent (und schon gar nicht rigoros) für das Textverstehen genutzt wurde, wie man als moderner Interpret meinen könnte“ (S. 148). Im Abschnitt „Der Autor in der Homodiegese“ wird eine berühmte Stelle aus Ovids Exildichtung diskutiert (Ov. trist. 2,347-56), in der das Sprecher-Ich sich auf die Lizenz des Dichters beruft, seine Person im Gedicht anders darstellen zu dürfen als sie in der Realität wirklich sei. Die Forschung hat diese Selbstaussage teilweise poetologisch gedeutet, in dem Sinn, dass der Autor Ovid sich ein von seiner Person verschiedenes lyrisches Ich erschafft. Feddern sieht hingegen keine Veranlassung, den Terminus „lyrisches Ich“ zu verwenden, mit der Begründung, Ovid fokussiere auf den Umstand, dass sein Gedicht Fiktionen enthalte, problematisiere hingegen nicht den ontologischen Status der Erzählinstanz.

Ich referiere dieses Beispiel so ausführlich, weil sich mein einziger systematischer Einwand gegen Fedderns Darstellung daran anschließt: Mir scheint nämlich, dass die Frage nach dem ontologischen Status der Erzählinstanz unbedingt mit der Frage nach der Fiktionalität eines Textes zusammenzudenken ist. Feddern steht, wie erwähnt, auf dem Standpunkt, dass der Erzähler im Rahmen der verdoppelten Sprachhandlungssituation lediglich eine Gedankenfigur ist, um den Autor eines fiktionalen Textes vom Vorwurf der Lüge präventiv freizusprechen. Diese Position ist zwar nicht zwingend, aber grundsätzlich legitim. Doch eine Frage stellt sich: Was  folgt aus der Prämisse, der Erzähler sei als Instanz qua Definition fiktionalen Texten vorbehalten, wenn dieser Zusammenhang in der antiken Literatur überhaupt nicht reflektiert wird? (vgl. Feddern, S. 2 u. ö.). Feddern hätte diesen Befund als ein starkes Indiz dafür werten können, dass es ein explizites Fiktionalitätsbewusstsein, wie wir es heute kennen, in der Antike kaum gegeben hat. Er tut es jedoch, meines Erachtens zu Unrecht, nicht. Im Gegenteil verwendet Feddern den Begriff der Fiktionalität und das Adjektiv fiktional zu leichtfertig, z.B. indem er das griechische μῦθοι einmal mit „fiktionale Werke“ (S. 31), kurze Zeit später jedoch mit „fiktive Geschichten“ (S. 32) übersetzt – was einen großen Unterschied macht. Ich bezweifle auch, ob sich etwa eine Textstelle, in der Dichtern Täuschung (ἀπάτη) attestiert wird – und mag es auch eine lobenswerte Form der Täuschung sein –, als Beleg für die Anerkennung fiktionaler Erzählungen eignet, die bekanntlich gerade durch die Indifferenz gegenüber dem Wahrheitsgehalt der in ihnen enthaltenen Aussagen definiert ist (S. 30). Wenn die gesamte antike Literatur pauschal als ‚erzählerlos‘ deklariert wird, wäre außerdem davon unabhängig zu fragen, wie man mit homodiegetischen Texten umgeht, die doch wohl allein deshalb einen Erzähler haben, weil Autor- und Figurenname nicht deckungsgleich sind, wie z.B. in den (von Feddern nicht behandelten) Metamorphosen des Apuleius.[4]

Auch wenn mich Fedderns Behandlung der narratologischen Kategorie „Stimme“ also nicht überzeugt, wird dadurch der Wert der Studie nicht erheblich geschmälert. Denn auch die Daseinsberechtigung des kurzen vierten Kapitels „Wirkung der Erzählungen“wird nachvollziehbar angesichts der, wie Feddern nachweist, großen Bedeutung dieses Aspekts für die Literaturtheorie der Antike. Ein wenig vermisst habe ich lediglich ein Fazit, gerade in Anbetracht der bereits angesprochenen Vielzahl von Einzelbeobachtungen.

Es wäre leicht, an dieser Monographie Kritik zu üben: Dem einen fällt vielleicht eine Textstelle ein, die Feddern unbedingt noch hätte behandeln müssen, die andere mag den Einbezug einer bestimmten Forschungsliteratur vermissen (denn natürlich könnte man zu vielen der von Feddern behandelten Textstellen noch mehr Literatur hinzuziehen). Doch davon sollte man Abstand nehmen Feddern hat mit seinem Buch eine Pionierarbeit geschaffen, mitder sich die künftige Forschung auf dem Gebiet der historischen Narratologie kritisch auseinandersetzen wird – und das ist kein kleines Verdienst.

Notes

[1] A. Kablitz, Literatur, Fiktion und Erzählung – nebst einem Nachruf auf den Erzähler, in: I. O. Rajewski / U. Schneider (Hgg.), Im Zeichen der Fiktion. Aspekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht, Stuttgart 2008, 13-44.

[2] Vgl. etwa M. Martínez / M. Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 112019.

[3] Vgl. G. Genette, Narrative Discourse. An Essay in Method, Ithaca 1972, hier: S. 234f.

[4] Feddern behandelt in dieser Kategorie, soweit ich sehe, nur einen modernen Roman, nämlich Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (S. 27).