BMCR 2021.10.09

Gut beschaffbare Heilmittel (Euporista)

, Gut beschaffbare Heilmittel (Euporista). Bibliothek der griechischen Literatur, 91. Stuttgart: Anton Hiersemann Verlag, 2020. Pp. 464. ISBN 9783777220383. €98,00.

Mit der 2020 vorgelegten zweisprachigen Ausgabe der (pseudo-)galenischen Euporista vermehrt Kai Brodersen nicht nur seinen stupenden Output an Bearbeitungen zuweilen übersehener Opera, sondern eröffnet im Verbund mit der 2015 vorgelegten Übersetzung der Medicina Plinii auch den Zugang zu einer weiteren, recht speziellen Subgattung antiker Medizinliteratur, nämlich über (vorgeblich) leicht beschaffbare Heilmittel. Der spätantike Autor legt die Absicht seiner Euporista im Proömium des ersten Buches selbst dar: „Hilfe für die Leute unterwegs“ (S. 77). Viele Heilmittel seien schlecht beschaffbar, ein geeigneter Arzt stehe ebenfalls oft nicht zu Verfügung – Grund genug also, nicht allzu viel Theorie niederzuschreiben, sondern mit Rückgriff auf hunderte gut greifbarer Ingredienzien darzulegen, „wie jemand auch als Privatmann aus dem Stegreif denen helfen kann, die Gefahr sind oder sonst leiden“ (S. 79). Brodersens umfangreiches, 464 Seiten umfassendes Buch beginnt mit einer Einführung zu Vita und Werk Galens (S. 7-9), um dann den Fokus auf die drei Bücher Euporista zu legen (S. 9-25: Inhalte, Gattungseinordnung, medizinhistorische Grundlagen, Überlieferungsgeschichte); Informationen zu den im Werk verwendeten Zahlen, Maßen und Gewichten (S. 25f.) sowie einige weiterführende Überlegungen für heutige Leser (S. 26; dazu s. u.) beschließen die flüssig lesbare Einführung.

Dass eine solche Hinführung auf kurzem Raum eine zweischneidige und für den Übersetzer nicht einfach zu bewerkstelligende Angelegenheit ist, zeigt sich gelegentlich im nicht immer gelungenen Spagat zwischen Überblick und Detailbesprechung: Während viele Informationen für den wissenschaftlichen Fachnutzer selbstverständlich sind (z. B. S. 25 zu den griechischen Zahlzeichen; S. 21 die Erläuterung, warum die Aldina „Aldina“ heißt), dürfte der medizinhistorisch unerfahrene Leser wichtige Rahmeninformationen vermissen, etwa dann, wenn der Schnelldurchgang durch die Säftelehre ganz ohne diachrone Komponente wie Entstehungszeit, zentrale Verfechter oder Galens anatomische Grundannahmen auskommen muss (S. 17). So fehlt denn selbst im Werbeprospekt des Hiersemann-Verlags ein Hinweis darauf, wer denn eigentlich die anvisierte Adressatenschaft der Brodersenschen Veröffentlichung sei, eine Grundüberlegung, die den Einführungsinformationen gutgetan hätte. Hierher gehört auch die Frage, auf welche weiterführende Literatur verwiesen werden sollte: Die Fußnoten erweisen sich nach Abzug von Editionsangaben, Stellenbelegen und Querverweisen als schmal, je nach intendierter Leserschaft zweifellos auch als viel zu schmal, etwa dann, wenn – um auf unser obiges Beispiel zurückzukommen – bei der Säftelehre nicht einmal K.-E. Rothschuhs Überblick über die Medizinkonzepte o. ä. anempfohlen wird. Dass sich hinter mancher Nebenbemerkung wie etwa dem Hinweis auf die Bedeutung des wachsenden Christentums auf das Werk (wie auf die spätantiken Rezeptsammlungen an sich) ganze Forschungszweige auftun, ahnt ein Leser außerhalb der Pharmaziegeschichtsforschung wohl kaum und wird mangels Literaturangaben auch nicht darauf hingewiesen. Ähnliches gilt für das Thema Magie (S. 20).

Etwas kurios mutet die Ankündigung an, „neue Einblicke in die antike und byzantinische Welt“ geben zu wollen. Worin genau diese bestehen sollen, lässt der Autor abgesehen von einigen allgemeinen Überlegungen (S. 26 Mitte) freilich offen. Dafür lohnt die ganz andere Erwartungen weckende Überschrift nicht. Ob die augenzwinkernd anempfohlene Suche nach einem historischen Rezept gegen Haarausfall, Schluckauf, Migräne oder andere Wehwehchen der eigentliche Impetus zur Euporista-Lektüre sein wird (S. 26 unten), mag dahingestellt bleiben; in jedem Fall aber verschenkt Kai Brodersen hier an exponierter Stelle, nämlich im Schlusswort seiner Einführung, die Gelegenheit für einen zusammenfassenden Hinweis, warum seine Veröffentlichung tatsächlich wichtig und ein brauchbares Hilfsmittel ist – nämlich für die Klärung einiger grundsätzlicher Subgattungs-Probleme. Ein Beispiel von vielen ist z. B. die Frage, ob es sich bei den Euporista wirklich immer um ,leicht‘ beschaffbare Heilmittel handelt (vgl. S. 16 oben) – und wenn nicht, was dies literarisch bedeutet (aemulatio?): Auch hier verschenkt Brodersen wertvolle Ansatzpunkte, die durch die Übersetzung nunmehr auch einem weiteren Bearbeiterkreis direkt ins Auge fallen werden, vgl. etwa 2,4,6 (206f.) (Verwendung von Seehundgalle), 2,21,2 (274f.) („einen Jagdhundwelpen zerreibe“) oder die Verwendung von Straußenmägen (2,24,9 [S. 286f.]) – allesamt wohl, auch wenn Alternativzutaten genannt werden, kaum „schnell beschaffbare“ Zutaten für die Selbstmedikamentation. Dass hier genauer nachgeforscht werden müsste, dürfte dem Autor mit Blick auf S. 17, FN 31 eigentlich selbst ins Auge gefallen sein, wo er vermerkt, dass Blutegel in den Euporista nicht genannt werden, „wohl weil sie eben unterwegs nicht gut beschaffbar sind“ – eine im Vergleich zu anderen Medizinwerken übrigens nicht haltbare Feststellung, vor allem im Vergleich mit Straußenmägen.

Zu kurz kommt ferner die philologische Hinterfragung der der Übersetzung zugrunde gelegten Ausgabe von C. G. Kühn, Bd. XIV, 311-581. Brodersen hat recht, wenn er eine Neuedition der Euporista als Forschungsaufgabe bezeichnet (S. 22); die Qualität der Textkonstitution selbst – bei Kühn, der den Text von Chartier übernommen hat, eine wirklich wichtige Frage! – wird jedoch kaum thematisiert bis auf den dürren Hinweis, offensichtliche Satzfehler seien korrigiert und fehlerhafte Lesarten in eckige Klammern gesetzt (S. 453). Entscheidungskriterien oder exemplarische Erklärungen hierfür nennt der Autor nicht, so dass der Leser letztlich keine echte Einschätzung darüber erhält, wie tragfähig der philologische Grund in Form der griechischen Textkonstitution eigentlich ist. Zugespitzt wäre sogar zu fragen, ob sich die große Mühe einer Übersetzung auf dieser Originaltextbasis überhaupt lohnt.

Die Übersetzung selbst – die erste in eine moderne Sprache, wie Brodersen betont – gefällt (Inhaltsangaben: S. 28-75 [!], Buch 1: S. 76-175, Buch 2: 176-321, Buch 3: 322-451), auch wenn man darüber streiten kann, ob man die vielen Aorist-Partizipien der Rezepturanweisungen fast flächendeckend mit Imperativen wiedergeben sollte. Die Ankündigung, das Werk sei eine Handreichung, aber „keine schöne Lektüre“ (S. 26), stimmt natürlich, und wenn der Übersetzer bewusst die sperrige Syntax beibehalten möchte (ebd.), tut er gut daran: So kommt der technisch-additive Charakter, wie er typisch für antike Rezeptsammlungen ist, auch im Deutschen angemessen zum Vorschein und spiegelt die Eigenart der literarischen Gattung wider. Auch von daher wäre es anzuraten gewesen, wenigstens kurz verwandte Opera anzureißen, so wie es etwa K.-D. Fischers hilfreiche Übersicht (Medicina nei secoli 24 [2012], 379-4401]) vorgezeichnet hat. Respekt ist der Leistung zu zollen, die vielen abgelegenen, auch einem Gräzisten sicher oft unbekannten Vokabeln wiederzugeben. Dass hier nicht immer der exakte Schnittpunkt aus retrospektiver Identifizierung und moderner botanisch-/zoologischer Wiedergabe getroffen wurde, ist zugunsten eines gelungenen Gesamtverständnisses verschmerzbar; freilich wäre hier eine genauere Vorab-Klärung der Übersetzungsentscheidungen hilfreich gewesen: Sollte etwa in 2,2,3 das griechische κόμμι als „Gummi“ und damit nah am Ursprungswort übersetzt werden oder als „Harz“, wie es heute üblich ist? Der prinzipiellen Identifizierungsproblematik von Pflanzen, Tieren und anderen Stoffen ist sich Brodersen bewusst (S. 453); sich hier auf W. Erhardts (Zanders) „Handwörterbuch der Pflanzennamen“ und E. Trapps „Lexikon zur byzantinischen Gräzität“ zu verlassen, ist sicher ein gutes Fundament, aber für manchen Spezialfall – etwa bei Ingredienzien aus dem Mineralienreich – unnötig schmal, weil es hier reiche, helfende Literatur (z. B. D. Goltz, Studien zur Geschichte der Mineralnamen in Pharmazie, Chemie und Medizin von den Anfängen bis Paracelsus [Sudhoffs Archiv 14], Wiesbaden 1982) sowie zahlreiche Kommentare, etwa im Rahmen der Berendes-Übersetzung für Dioskurides, gibt.

In die Falle vermeintlich epochenübergreifender Vergleichbarkeit ist Brodersen aber durchaus getappt: Wenn er in seiner Einführung, S. 10, bemerkt, „Krankheiten wie Bulimie (1.10.18) oder Anorexie (3.166) sind noch heute gefährlich“, dann hat er natürlich an sich recht, verkennt aber die gegenüber der Spätantike vollkommen veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (oder erwähnt sie jedenfalls nicht), unter denen heute vor allem junge Menschen bulimisch werden. Der Begriff Bulimie ist zwar antik und kommt auch als Partizip Präsens Aktiv in den Euporista vor, seine heutigen Konnotationen sind aber nicht mit der antiken Selbstbehandlungssituation kompatibel. Gerade bei solchen Beispielen ein historisches Kontinuum zu suggerieren, ist unnötig und erstickt das Potenzial dessen, was man in historisch-vergleichender Analyse auch aus solchen Werken wie den Euporista gewinnbringend herausarbeiten könnte.

Philologisch kommt nicht alles sauber daher; hier exemplarisch nur zwei Beispiele: Die gelbe und schwarze Galle heißen in der Sprache Galens natürlich nicht xanthos chole und melas chole (S. 17), sondern bedürfen des Femininums (ξανθή und μέλαινα). Aufschlussreich ist der Fehler auf S. 192, cap. 2,7: „und der Geruch wird den Geruch verstreuen“, doch es heißt griechisch (eigentlich) ὡς μὴ, nicht ὡσμὴ (richtig bei Kühn!). Hat man den Kühn-Text aus dem TLG kopiert und die Zeilenenden – hier mit wort- und sinnentstellender Wirkung – gelöscht?

Die vorgenannten Monita sollten abschließend nicht falsch veranschlagt werden: Es ist überaus begrüßenswert, die drei Bücher Euporista des Corpus Galenicum nun in deutscher Übersetzung vorliegen zu haben. Zweifellos trägt Brodersens Arbeit dazu bei, diese weithin unbekannte Subgattung spätantiker Medizinliteratur neu bzw. besser erschließen zu können, sei es realienwissenschaftlich, sei es unter philologischen Gattungsfragen. Dass es der Autor versäumt, zentrale editorische Fragen und Grundsätze seiner Übersetzung en détail durchzusprechen und die zu erwartenden Gewinne philologischer und vergleichend-historischer Arbeit nicht einmal andeutet, wird hoffentlich den intensiven Einbezug der Euporista nicht zu sehr retardieren.