BMCR 2021.02.22

Homicide in the Attic Orators

, Homicide in the Attic Orators: Rhetoric, Ideology, and Context. Routledge Monographs in Classical Ctudies. Abingdon; New York: Routledge, 2020. Pp. viii, 177. ISBN 9780367135409. £120.00.

[The Table of contents is listed below.]

Dass die athenische Demokratie dem Gerichtswesen eine hohe Bedeutung für Funktion und Erhalt der Verfassung einräumte, ist kaum strittig. Der Demos legte Wert auf Einsitznahme der Bürger in die Gerichte, ein klar geregeltes Verfahren, Bindung der Urteilsfindung an die Gesetze und die Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit der Richter. Dem wurde durch mannigfaltige normative Bestimmungen und praktische Vorkehren Nachdruck verliehen. Die Dikasterien waren ein ganz wesentlicher Bestandteil der politischen Ordnung der Polis.

Es ist deswegen eigenartig und erklärungsbedürftig, weswegen die Gerichtsbarkeit über Mord und Totschlag innerhalb des Gerichtswesens eine Sonderstellung einnahm. Nicht nur wurden diese Delikte nicht vom Volksgericht beurteilt, sie wurden, obgleich sie nicht allzu häufig gewesen sein dürften, in fünf verschiedene Kategorien unterteilt, die jeweils von einem anderen Gerichtshof behandelt wurden. Christine Plastow nimmt sich in ihrer am University College London verfertigten Dissertation interessanter damit zusammenhängender Problemstellungen an. Sie fragt jedoch nicht nach Struktur, Zusammensetzung und Funktionsweise der fünf Gerichte, also nach den institutionellen Gegebenheiten, sondern nach den Werthaltungen, welche die Einstellungen der Beteiligten – Kläger, Angeklagte, Richter und breiteres Publikum – zu diesem Typus von Verfahren bestimmten, und nach der Art und Weise, wie die Gerichtsredner mit Fällen von Gewaltverbrechen mit tödlichem Ausgang umgingen. Es geht folglich um die Einschätzung der verschiedenen Tötungsdelikte durch die verfügbaren Quellenautoren, deren Verwendung als Argument in Gerichtsverhandlungen sowie deren Einpassung in gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Kontexte. Plastow nennt das ideology of homicide und fasst damit die diversen Anschauungen zusammen, die sich in Athen zu einem einigermaßen konsistenten Bild der Auffassungen von Tötungsdelikten fügen. Plastow verfolgt dabei drei Analyselinien: Zum einen wird nach der Diskrepanz zwischen den normativ gesetzten Erfordernissen und deren konkreten Auswirkungen in der Praxis gefragt, dann geht es um die Bedeutung des jeweiligen Kontextes für die erfolgreiche Rhetorik und schließlich wird der Unterschied zwischen der Darstellung von einschlägigen Gerichtsfällen in den Dikasterien und den Spezialgerichtshöfen untersucht.

Das stellt sich in Plastows Bearbeitung als fruchtbarer Ansatz heraus. Nach einem einführenden Überblick über die konkreten Sachverhalte diskutiert sie zunächst die Elemente, welche die genannten Gerichtsverfahren zu einem besonders herausgehobenen Teil des athenischen Gerichtswesens machten. Sie betont das Alter sowie die Ehrwürdigkeit der Gerichtshöfe, die seit Drakon nach den athenischen Berichten angeblich unveränderten Mordgesetze und die Verbindung zu religiösen Empfindungen, die jene zu einem anzustrebenden Ideal und zur soliden Basis für die Konstruktion der homicide ideology werden lassen (S. 27).

Gerade die Vorkehrungen gegen sakrale Befleckung der Polis durch Mörder und Totschläger („pollution“) und die Möglichkeiten, wie die Gerichtsrhetorik sie für ihre Zwecke nutzte, sind die Gegenstände des 3. Kapitels (S. 50–88). Die Maßnahmen gegen ein Miasma wie Isolierung und Bann gegen des Mordes Angeklagte oder die rituellen Reinigungen nach Tötungen werden in Reden, die vor ordentlichen Dikasterien gehalten wurden und sich direkt oder indirekt mit entsprechenden Delikten befassten, häufiger in die Argumentation des Redners eingebaut als bei solchen, die vor Blutgerichten vorgetragen wurden. P. erklärt sich das mit dem Umstand, dass letztere ohnehin religiös konnotiert und die sakrale Atmosphäre präsenter war als in den Volksgerichten, wo diese je nach Kontext erst in Erinnerung gerufen werden musste. Klar ergibt sich aus den herangezogenen Quellen, dass sich der Demos der durch Totschlag verursachen Verunreinigungen bewusst war und sie sehr ernst nahm, so dass die Redner in entsprechenden Kontexten ohne lange Sacherklärungen darauf rekurrieren konnten.

Im 4. Kapitel traktiert Plastow einen Gegenstand, der nicht nur für Gewaltverbrechen, sondern generell bedeutungsvoll war – allerdings in unterschiedlicher Weise. Die Regel, zur Sache zu reden und nicht abzuschweifen („relevance rule“), wurde nach den Beobachtungen von Plastow in den Spezialgerichten für Mord und Totschlag sehr viel besser beachtet als in den Dikasterien; die rhetorischen Strategien unterschieden sich folglich je nach Gerichtshof. Plastow sieht die Erklärung dafür in der Zusammensetzung der Richtergremien: Die größere Erfahrung der in Mordfällen richtenden Archonten sowie die rituelle Absicherung der Spezialgerichte hätten für striktere Disziplin der Redner in solchen Fällen gesorgt. Sie hatten allenfalls im Rahmen von narrationes die Chance, sich zu Charakter und Stellung eines Beklagten zu äußern; allzu weit ausholende und abseitige Darlegungen zur Person waren offenbar weniger erfolgsversprechend.

Im letzten Kapitel schließlich geht Plastow in sehr differenzierter Diskussion den Beweggründen der verschiedenen Prozessbeteiligten nach. Die Behandlung einschlägiger Reden von Lysias (1; 12; auch 3; 13) und Antiphon (6) zeigt, dass die für die Zuteilung eines Falles zu einem Gerichtshof entscheidende Frage, ob eine Tat absichtlich bzw. geplant erfolgt war, situativ recht unterschiedlich dargestellt werden konnte. Auch die Motive, welche einer Tat zugrunde lagen, lassen sich auf der Basis der Reden kaum generalisieren oder auch nur kategorisieren; sie werden überdies eher selten thematisiert. Hingegen greifen Redner die Motivation eines Klägers, der einen Mord oder Totschlag anhängig macht, eher auf. Ihnen wird von den Rednern häufig unterstellt, die Anklage missbräuchlich erhoben zu haben, um den Gegner aus politischen oder persönlichen Gründen anschwärzen und damit schädigen zu können.

Plastow argumentiert plausibel und stringent, ihre detaillierten Quelleninterpretationen sind genau, sensibel und kenntnisreich. Ihre Ergebnisse sind demgemäß sorgfältig hergeleitet. Allerdings ist die Quellenbasis ziemlich schmal – dessen ist die Autorin sich auch durchaus bewusst. Lediglich drei Reden sind überliefert, die vor den Spezialgerichten für Mord und Totschlag gehalten wurden. Die wichtigsten Interpretationslinien und Thesen der Autorin stützen sich deswegen auf Erwähnungen von Gewaltverbrechen in Dikasterienreden, wo diese je nach Umständen Teil der Strategien des jeweiligen Redners sein können. Die Unterscheidung zwischen Dikasterien und Spezialgerichten wird nicht nur hier deutlich. In letzteren scheinen sich die Redner enger an die gesetzlichen Vorgaben angelehnt zu haben als in den ersteren, die Besonderheit von Einschätzung von und Umgang mit Gewaltverbrechen prägt jedoch das gesamte Gerichtswesen. Die Volksrichter werden zwar anders angesprochen als die Richter im Areopag und den übrigen Gerichtshöfen für gewaltsame Todesfälle, doch sind allen Richtern sowie Klägern und Angeklagten Stellenwert und Regeln, die für diese Fälle gelten, bewusst.

Sowohl in Mordgerichten wie in Dikasterien dürfte die selektive Wahrnehmung der Realität und ihre stark interessegeleitete Darstellung in den Reden zur Usanz gehört haben. Es zeigt sich freilich, dass die Prägung durch die kulturelle Tradition in Spezialgerichten die Redner zu einer stärkeren Bindung an die Sache zwang als in den übrigen Fällen.

Die Arbeit von Plastow hat die komplexe Einstellung zu Gewaltverbrechen und ihrer gerichtlichen Ahndung im klassischen Athen akribisch und kompetent untersucht. Es fragt sich freilich, wie häufig eigentlich solche Verbrechen gewesen sind, wie oft also Richter und Bürger mit ihnen konfrontiert wurden. Nimmt man die Zahl der einschlägigen Plädoyers zum Maßstab, wohl eher selten. Auch falls man sich die These von Gabriel Hermann zu eigen machen will, wonach die athenische Demokratie grundsätzlich eine friedliche Gesellschaft gewesen sei,[1] wofür Einiges spricht, war ihre quantitative Bedeutung nicht sehr hoch. Hervorgehoben zu haben, dass sie in den Augen der Bürger eine spezielle Qualität hatten, ist das Verdienst von Plastows Werk.

Inhaltsverzeichnis

Introduction: the landscape of Athenian homicide (S. 1–20)
1. The ideology of homicide: shape and usage (S. 21–49)
2. Religion, ritual, and the rhetoric of pollution (S. 50–88)
3. Rhetoric and relevance (S. 89–113)
4. Hows and whys: rhetorics of intent, motive, and motivation (S. 114–154)
Conclusion (S. 155–157)

[1] Gabriel Herman, Ritualised friendship and the Greek city, 1987 u. ders., Morality and behaviour in democratic Athens, 2006.