BMCR 2017.10.05

De Naxos à Amorgos. L’impérialisme athénien vu des Cyclades à l’époque classique. Scripta antiqua 75

, De Naxos à Amorgos. L’impérialisme athénien vu des Cyclades à l’époque classique. Scripta antiqua 75. Bordeaux: Ausonius Éditions, 2015. 371. ISBN 9782356131362. €25.00 (pb).

Die neuere Forschung über die Hegemonie, die Herrschaft, das Reich, den Imperialismus usw. Athens im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. ist skeptisch geworden hinsichtlich einer Schwarzweißmalerei der Realitäten im Bannkreis athenischer Dominanz in der Ägäis. Dies berücksichtigt Grégory Bonnin in der vorliegenden Untersuchung auch für deren insulares Kerngebiet. Basis ist seine unter der Ägide von Patrice Brun in Bordeaux entstandene Doktorarbeit. Sie untermauert das zuletzt merklich gewachsene Interesse an den ägäischen Inselpoleis und ihren Lebenswirklichkeiten. Bonnin konzentriert sich auf die wechselhaften Verbindungen der Kykladen zu der nach dem Xerxeskrieg zur Hegemonialmacht aufgestiegenen, dynamischen und demokratischen Großpolis der Athener im 5. und auf deren weitere Entwicklung im 4. Jahrhundert, die ab 377 erneut von einer athenischen ‘domination’ geprägt war. Es geht darum, die Geschichte des Archipels aus Sicht der durchschnittlich eher kleineren Polis-Akteure zu betrachten, um so zugleich einen Gegenakzent zu primär athenisch bestimmten Quellen zu ermöglichen. Das Buch fügt sich mit seiner Perspektive in eine Reihe von jüngeren Forschungsbeiträgen ein, in denen der ägäische Inselraum, seine Netzwerke und generell seine Interaktionen thematisiert werden. Es sei nur erinnert an Publikationen von Christy Constantakopoulou und Brian Rutishauser, mit denen Bonnins Analyse vielfach korrespondiert.1

Die Quellen, die umfassend berücksichtigt werden, verteilen sich in unterschiedlicher Dichte auf den Untersuchungszeitraum. Sie werfen Interpretationsschwierigkeiten auf, weil ihre Lückenhaftigkeit es einerseits erschwert, eine annähernd präzise und dichte politische Geschichte der Kykladen zu schreiben, während andererseits eine ganze Reihe von Inschriften schlaglichtartig detailreiche historische Einblicke gewähren, ohne jedoch gleichzeitig größere Kontexte offenzulegen. Hinzu kommt weiter, dass die Kykladenpoleis sich selbst eher selten zu Wort melden. Ihre Haltung Athen gegenüber ist daher vorwiegend nur indirekt erschließbar.

Bonnin untersucht in seinen ausführlichen Prolegomena (S.27-84) zunächst die Terminologie, mit der das Phänomen der athenischen „domination“ erfasst werden kann. – Der auch in dieser Hinsicht hilfreiche Beitrag von Wolfgang Schuller, Die Herrschaft der Athener im ersten attischen Seebund, Berlin 1972 bleibt jedoch unberücksichtigt. – Er verteidigt, während arché als zu unspezifisch abgelehnt wird, die Verwendung des Begriffs „impérialisme“, welcher dem polymorphen Charakter der athenischen Dominanz entspräche, und führt den Neologismus „impérialisation“ ein. Der umfasst die Prozesse, die zur Schaffung einer stabilen, polisübergreifenden bzw. suprastaatlichen politischen Entität führten und bestimmt waren durch den Aufbau einer Herrschaftsorganisation, die Harmonisierung innerhalb des Machtbereichs in struktureller, administrativer und juridischer Hinsicht in den Beziehungen zwischen einer dominierenden Macht und den Räumen und Bevölkerungen, die ihr unterworfen sind. Die Kontakte sind dabei durch das Machtgefälle bestimmt und zielen auf die Entstehung eines Reiches (s. bes. S.207 f und 305 f). Diese Prozesse erfassten den gesamten Herrschaftsraum Athens und somit auch die Kykladen. Daher betrachtet Bonnin auch die „leges generales“ Athens für die Bündnerpoleis aus dem 5. Jh. hinsichtlich ihrer spezifischen Bedeutung für und Wirkung auf die Nesioten (z.B. das berühmte Münzdekret des Klearchos). Gerade die lange Dauer ihres Einflusses auf die Kykladen bietet die Chance, Veränderungen der Formen und Rezeptionen der Dominanz der Athener zu erfassen.

Im nächsten Schritt wird die Verwendung der Begriffe ‚nesoi‘ und ‚nesiotai‘ in der antiken Literatur von Herodot an erörtert. Geographisch wie politisch wurden sie als etwas Eigenes gesehen und die Termini im Wesentlichen bezogen auf den Kykladenraum verwendet. Dessen Wahrnehmung als eigenständige Größe erfolgte – so eine Grundthese des Buches – maßgeblich in Auseinandersetzung mit den machtpolitischen Ambitionen Athens. Wie im Hauptteil herausgearbeitet waren diese prägend sowohl für die Sichtweise der dominierenden Macht als auch für die der Inselstädte selbst, die u.a. befördert durch den exogenen Faktor des Drucks von auswärtigen Hegemonialmächten, besonders Athens, eine spezifische Identität entwickelten. So entstand eine Perzeption als eigener Raum bestehend aus den „im Kreise liegenden Inseln“ um den Mittelpunkt Delos herum. Die 478/7 mit der Gründung des Ersten Seebundes gegebene geographische und politische Teilung der Kykladen wurde, bedingt durch athenische Expansionsschritte 426 und 415, überwunden. Die langdauernde athenische Vorherrschaft hat die bereits 478/7 beigetretenen ionischen Nesioten zusammengebracht mit ihren dorischen Nachbarn und damit den spezifischen Raum der Kykladen konstituiert, der eine eigene Identität ausbildete. Deren Entwicklung wird von Bonnin plausibel dargelegt. Allerdings fehlen Zeugnisse, in denen die Nesioten sich selbst als solche und damit als zusammengehörig identifizierten aus der klassischen Epoche weitgehend. Auch ein Beitrag des hellenistischen Nesiotenbundes zu diesem Identitätsbildungsprozess erscheint denkbar, was aber nicht thematisiert wird. Zudem wäre zu erwägen, wie weit die Unterschiedlichkeit der Erfahrungen der einzelnen Kykladen mit den verschiedenartigen Formen athenischer Herrschaft bzw. ihre unterschiedlichen Reaktionen darauf (die Bonnin betont) eine annähernd einheitliche Haltung und daran anknüpfende Identitätsbildung erschwert haben. Die Kap.1-4, der Hauptteil der Arbeit, erörtern in chronologischer Abfolge die Beziehungen zwischen dem Inselraum und den hier auftretenden Großmächten, primär Athen, zwischen der Gründung des Ersten Seebundes und der des Nesiotenbundes.

Ihre Entwicklung wird vor allem aus dem Blickwinkel der Inselpoleis verfolgt und untersucht, wie die Nesioten Hegemonie, Herrschaft, impérialisme der Athener sahen, was diese konkret für sie bedeuteten, wozu sie durch ihre Konfrontation damit herausgefordert wurden, mit welchen Mitteln sie darauf reagierten und wie sich ihre Perspektive veränderte. Dies wurde dadurch beeinflusst, wie sich die athenische Dominanz gestaltete, welche Vorteile sie den Bundesgenossen bzw. Untertanen bot und welche anderen Faktoren, gemeinsame Interessen etc. den tatsächlich gegebenen Zusammenhalt mit Athen trugen.

Als grundlegenden Entwicklungszug arbeitet Bonnin heraus, dass die Nesioten trotz des unbestrittenen „impérialisme athénien“ und der „impérialisation“ (Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 5. Jh.s) diese Phänomene – ebenso wie weniger drückende Ausprägungen von Dominanz – weitgehend akzeptierten, weil eine solche Haltung letztlich ihren Interessen entsprach. Dies galt für das 5. Jahrhundert ebenso wie für das 4. Die Bereitschaft, sich einzufügen, wurde getragen von der Erkenntnis, dass man auf kommerziellem Gebiet ebenso wie politisch und militärisch profitierte, da Athens Thalassokratie äußere Feinde fernhielt und die Piraterie zumindest deutlich einschränkte, während man gleichzeitig auf eine kostspielige eigene Flotte und die damit verbundenen infrastrukturellen Investitionen verzichten konnte. Derartige Kalkulationen erstreckten sich auch auf die Zahlung von phóroi oder syntáxeis. Allerdings wird an verschiedenen Situationen ablesbar, dass den Bundesgenossen häufig gar keine andere Wahl blieb, als sich derjenigen Hegemonialmacht anzuschließen, welche maritim nun einmal dominierte. Melos ist das klarste Beispiel dafür, mit welcher Härte und Konsequenz die Athener im 5. Jh. ihr geostrategisches Konzept einer Seeherrschaft im Inselraum umzusetzen gewillt waren, das diesen als geschlossenen, alle seine Teile umfassenden Machtkomplex innerhalb der Thalassokratie definierte, dessen Ressourcen und Loyalität Athen jederzeit verfügbar waren. Die Realisierung dieses Anspruchs galt als relevanter als eine Anerkennung außenpolitischer Selbstbestimmung als Grundrecht zwischenstaatlicher Politik, wie die Melier es verlangten.

Bonnin hebt zu Recht hervor, dass allein das große Machtgefälle zwischen Athen und den Inselstaaten oder die Zwangsmittel der Herrschaft keineswegs ausreichen, um die bedenkenswerte Stabilität ihres Zusammenhalts zu erklären. Trotz all ihrer Härten arrangierten sich die Nesioten im 5. Jh. mit der arché, weil sie so ihre Interessen besser gewahrt sahen. Durch ihre Zugehörigkeit waren sie einbezogen in einen größeren ökonomischen, politischen und auch kulturellen Raum und sahen sich dadurch besser abgesichert. Die Ablehnung einer Einbindung in das athenische Herrschaftsgefüge seitens der Melier in dem berühmten Dialog erscheint insofern eher als Ausnahme. Die übrigen Inseln zogen eine Einfügung in die arché und die damit verbundenen Vorteile dem Untergang ihrer Polis vor und akzeptierten ihren damit einhergehenden Verzicht auf eine ohnehin nur schwer realisierbare, umfassende außenpolitische Handlungsfreiheit. Bonnin gelangt zu diesem Ergebnis, weil es im Unterschied zu anderen Forschern nach seiner Deutung der einschlägigen Quellen zwischen der Revolte von Naxos und der von Andros (411) nicht zu einer größeren oder kleineren Abfallbewegung im Inselraum gekommen ist. In jedem Fall spiegelt die Akzeptanz der athenischen Herrschaft einen gewissen Lernprozess bei den Bundesgenossen, die einsehen mussten, dass offener Widerstand nicht von Erfolg gekrönt war. Zudem ist die diese Akzeptanz, für die besonders die Elitegruppen der Nesioten relevant waren, deren Interessen sie an Athen banden, gewiss eher für die Demos-Parteien in den Inselpoleis anzunehmen als für deren z.T. vertriebene Gegner. Die Haltung der melischen Oligarchen ist hierfür bezeichnend.

Insgesamt konstatiert Bonnin zwischen 470 und 411 eine hohe Stabilität der Herrschaft. Selbst im Dekeleischen Krieg war nach seiner Einschätzung im Kykladenraum nur Andros mit seiner Revolte bis 405/4 erfolgreich. Die in Thuk.8,64,5 f angedeuteten Revolten könnten aber auch dort eine größere Dimension erreicht haben.

Gemeinsamkeiten von Interessen mit den Athenern zeigten sich, zumal auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit der spartanischen Ägäisherrschaft, erneut im 4. Jh. und kulminierten in der Gründung des Zweiten Seebundes. Athen verstand es ab 377 sowie nach dem Bundesgenossenkrieg durchaus, dosiert mit den Mitteln der impérialisation umzugehen, so dass den Athenern nach dem Verlust anderer Einflusszonen ab 355 die ‚nesoi‘ als letztes Gebiet blieben, innerhalb dessen ein „empire équilibré“ fortbestehen konnte, das von einem stärkeren Ausgleich zwischen Hegemonialmacht und Untertanen profitierte. Eher abrundend, die Ereignisse referierend sind die Ausführungen zur Geschichte des Archipels während des Lamischen Krieges (unsichere Teilnahme der Nesioten) und zu Gründung und Anfängen des Nesiotenbundes. Ergebnis der Überlegungen Bonnins ist, dass im Archipel selbst nach Chaironeia und den Seeoperationen der Flotte Alexanders gegen die der Perser im Ägäisraum bis hin zum Lamischen Krieg ausgeprägte Sympathien für die Athener existierten. Beiderseits waren Interessen gegeben, die für eine Fortdauer der athenischen Seeherrschaft sprachen, wobei in dieser letzten Phase zwischen 338 und der Seeschlacht von Amorgos die Athener im Kykladenraum nur noch als regionale Schutzmacht auftreten konnten und 314 auch ihren letzten Einfluss auf Delos verloren. Warum sie trotz der vielen Trieren, die auch noch nach 338 in den athenischen Schiffshäusern lagen, ihre Seeherrschaft eingebüßt haben, ist eine andere Frage.

Bonnins Arbeit veranschaulicht in überzeugender Weise die Entwicklung der Beziehungen der in der klassischen Zeit dominierenden Macht im Zentrum der Ägäis, Athen, zu den Inselpoleis, die unter den Bedingungen sich immer wieder wandelnder Umstände und Machtpotentiale differenzierte Formen ihrer Ausgestaltung fanden, Elemente wie Symmachie, Hegemonie, Herrschaft, impérialisme und impérialisation umgriffen und zu unterschiedlichen Resultaten führten. Dabei war in der Summe die Schnittmenge gemeinsamer Interessen von Athenern und Nesioten von beachtlichem Umfang und dies führte zu einer relativen, wenn auch keineswegs konfliktfreien Stabilität der Beziehungen, die freilich Katastrophen nicht ausschloss, wie das Ende von Melos bezeugt.

Die eingangs (S.19 f) gestellte Frage nach den Reaktionsmöglichkeiten der Nesioten angesichts der athenischen Herrschaft wird letztlich folgendermaßen beantwortet: Sie waren Athen gegenüber nicht in einer rein passiven Rolle, sondern durchaus aktive Partner auf den ökonomischen, kommerziellen, politischen und militärischen Ebenen der Beziehungen, d.h. „acteurs de l`histoire de leur domination“ (S.326), wobei die Verhaltensweisen und -muster der Poleis durchaus variierten. Sie hatten keine realistische Möglichkeit, sich gegen die jeweils maritim dominierende Macht im Archipel durchzusetzen – hier galt das ‚Gesetz des Stärkeren‘, wie Bonnin mehrfach feststellt –, aber die Chance, um den Preis ihrer Akzeptanz von der athenischen Friedensordnung und Dominanz zu profitieren. Darin lag ein Element der Wechselseitigkeit der Bindungen, die geprägt waren vom beiderseitigen Willen, die eigenen Interessen angesichts der Erkenntnis der Grenzen des Möglichen zu wahren. ‚Akzeptanz‘, deren graduelle Abstufungen sich mit den verfügbaren Quellen kaum befriedigend greifen lassen, war eine für die Kykladen auf längere Sicht kaum zu vermeidende Haltung, zumal dieser Raum nach dem 6. Jh. (Naxos und Polykrates) keine hegemoniale Struktur aus sich selbst heraus hervorgebracht hatte. Damit konnte die Frage nach einer übergreifenden Organisationsform dieses geopolitischen Raumes jeweils nur durch eine Hegemonialmacht von außerhalb beantwortet werden.

Eher unsystematisch behandelt Bonnin die Bedeutung der ionischen Verwandtschaft zwischen Athen und den Inselpoleis. Hier wäre klarer zu diskutieren gewesen, wann Vorstellungen aufgekommen sind, die Athen die Rolle einer Metropolis auch der Kykladen zusprachen, und welche Konsequenzen sich daraus ergaben. In der Frage der delischen Amphiktyonie, die mit der nach den ionischen Traditionen der Kykladen verknüpft ist, schließt er sich der Position von V.Chankowski an, die eine solche leugnet, eine nicht unumstrittene Auffassung. Drei Karten, Literaturverzeichnis und Quellen- und Namensregister schließen den Band ab. Mehrere Abbildungen illustrieren u.a. die Lage von Häfen einiger der Kykladenpoleis. Das mehrfach zitierte Werk von M.Dreher (1995) fehlt im Literaturverzeichnis.

Notes

1. Christy Constantakopoulou, The Dance of the Islands: Insularity, Networks, The Athenian Empire and the Aegean World, Oxford 2007; Brian Rutishauser, Athens and the Cyclades. Economic Strategies 540-314 BC, Oxford 2012.