BMCR 2017.05.28

Historiographie – Ethnographie – Utopien. Gesammelte Studien, Teil 4: Studien zur griechischen Historiographie (herausgegeben von Robert Rollinger und Kai Ruffing). Philippika, 18.4

, Historiographie - Ethnographie - Utopien. Gesammelte Studien, Teil 4: Studien zur griechischen Historiographie (herausgegeben von Robert Rollinger und Kai Ruffing). Philippika, 18.4. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2016. x, 271. ISBN 9783447106078. €48.00.

Publisher’s Preview

Nach drei Sammelbänden aus Reinhold Bichlers Schaffen 1 erschien 2016 nun ein weiterer Band mit Beiträgen des Innsbrucker Althistorikers aus den Jahren 2003-2014. Dreizehn Aufsätze zur griechischen Historiographie belegen „die ungebrochene Schaffenskraft Bichlers“, so das Vorwort der beiden Herausgeber Robert Rollinger und Kai Ruffing. Die Kategorisierung und Subsumierung der sehr diversen Beiträge unter dem Begriff Historiographie erfolgte in erster Linie aufgrund der Konzentrierung der Beiträge auf die griechischen Geschichtsschreiber Herodot und Ktesias sowie aufgrund der Alexander-Historiographie. Im Folgenden werden erst die Beiträge kurz zusammengefasst, anschliessend sollen die Stärken und Schwächen des Buches besprochen werden.

Der erste Beitrag, „Die Datierung des Troianischen Krieges als Problem der griechischen Historie“ (2003), S. 1-14, liefert einen exzellenten Einstieg in den Band und die übergeordnete Thematik. Bichler überblickt von Homer über Diodor bis zu Clemens Alexandrinus verschiedene Deutungen und Berechnungen der Datierung des Trojanischen Krieges und stellt dabei heraus, dass das Heroische Zeitalter in einer „qualitativ anderen Zeit“ (S. 1) situiert war, die nicht „in einem messbaren Kontinuum hin zur Gegenwart stand“ (S. 11). 2 Alle Datierungsversuche der Antike waren folglich nicht mehr als Mutmassungen sowie bewusste Vergangenheitskonstruktion.

Im zweiten Beitrag, „Der Lyder Inaros. Über die ägyptische Revolte des Ktesias von Knidos“ (2006) 15-28, macht Bichler den Leser erstmals mit Ktesias von Knidos vertraut. 3 Aufgrund möglicher Textlesarten (Ist es der Lydier oder der Lybier Inaros?) stellt Bichler Ktesias‘ Spiel mit seinem Vorgänger Herodot sowie bewusste Gegenwartsbezüge in seinen Persika heraus.

Der dritte Beitrag „Über die Rolle und das Schicksal siegreicher Athleten in Herodots Historien “ (2008), S. 29-42, schweift zurück zu Herodot und behandelt die Frage, wann und inwiefern Herodot seine Charaktere als siegreiche Athleten erwähnt (oder konstruiert), stellt dabei eine subtile Kritik am Machtstreben der Athener heraus und beleuchtet die Verknüpfung von sportlichem Prestige und gewaltsamen Schlachtentod.

Im vierten Beitrag „Probleme und Grenzen der Rekonstruktion von Ereignissen am Beispiel antiker Schlachtenbeschreibungen“ (2009), S. 43-66, verlässt Bichler Herodot und Ktesias, um bewusst „essayistisch“ (S. 43) und mit kritischem Auge die Möglichkeiten und Grenzen der Wahrnehmung und Schilderung von Schlachtgeschehen zu erörtern.

An fünfter Stelle folgt wieder ein Artikel zu Herodot und Ktesias, „General Datis‘ death in the battle of Marathon: A Commentary on Ctesias of Cnidus and his relation to Herodotus“ (2013), S. 67-81. Bichler stellt hier gezielt die beiden divergierenden Fassungen der beiden Historiographen gegenüber und stellt die These auf, dass es über die Helden von Marathon verschiedene Berichte gab, die aus der Konkurrenz der Griechen in ihrer Konstruktion ruhmreicher Vorfahren erwuchsen. Damit schliesst Bichler an seine Argumentationen in den Beiträgen 1 und 3 an. Bezüglich Ktesias konstatiert Bichler auch hier – und belegt es anhand einer tabellarischen Appendix –, dass Ktesias in einem „literary game“ (S. 74) Herodot immer wieder bewusste korrigierte.

Der sechste Beitrag „Über das Königtum der Inder, Araber und Aithiopen in der griechischen Ethnographie“ (2010), S. 83-101, untersucht die Darstellung entlegener Königreiche als Projektionsfläche für theoretisch-politische Erörterungen der Geschichtsschreiber. Anhand einer Gesamtschau der griechischen Historiographie stellt Bichler fest, wie zahlreiche Geschichtsschreiber unbekannte, und daher imaginativ ausgemalte Reiche benutzten, um in ihrer Heimat eine politische Debatte über die Begrenzung monarchischer Herrschaft zu führen.

Im siebten Beitrag „Über die Periodisierung griechischer Geschichte in der griechischen Historie“ (2012), S. 103-132, überblickt Bichler die griechische Historiographie von Herodot bis Diodor und ihr Verhältnis zur Vergangenheit, ihrer Verknüpfung heroischer und historischer Geschichte und ihre Wahrnehmung von Zäsuren und „epochaler Wenden“ (S. 118).

Der achte Beitrag „Die analogen Strukturen in der Abstufung des Wissens über die Dimensionen von Raum und Zeit in Herodots Historien “ (2006), S. 133-156, wendet sich wieder gezielt Herodot zu und analysiert seine sorgfältige Differenzierung in der Berichterstattung, je nachdem wie weit Räume und Zeiten von seiner eigenen Person entfernt waren.

Im neunten Beitrag „Ein merkwürdiger Fall von Euergesie. Alexander der Grosse und die Geschichte von Kyros und den Arimaspen“ (2013), S. 157-167, vergleicht Bichler die divergierenden Quellen zur Überlieferung des Alexanderfeldzugs und dem Zusammentreffen mit dem Volk der Ari(m)aspen. Dabei stellt er heraus, dass die Alexander-Historiographie bewusst die Begegnung mit den Ariaspen konstruierte, um an die historische Begegnung des Perserkönigs Kyros mit den Arimaspen anzuknüpfen.

Alexander bleibt auch Thema des zehnten Beitrags „Konnte Alexander wirklich nicht schwimmen? Überlegungen zu Plutarch, Alex. 58.4“ (2013), S. 169-181. Bichler untersucht die in der Forschung häufig vertretene Meinung, Alexander hätte nicht schwimmen können, und führt entgegen der im Titel genannten Quelle weitere Historiographen an. So kommt Bichler zum Schluss: der König konnte schwimmen!

Im elften Beitrag „Die Wahrnehmung des Alexanderreichs: Ein Imperium der Imagination“ (2014), S. 183-218, behandelt der Autor die Diskrepanz des Alexanderreichs zwischen Kurzlebigkeit und Berühmtheit sowie die ideologische Aufladung des Makedonenreichs in der Rezeption bis ins 21. Jh. Mehr dazu gleich.

Der zwölfte Beitrag „Semiramis and Her Rivals. An Essay“ (2014), S. 219-235, ist wieder auf Englisch verfasst, wobei die fremdgeleistete Übersetzung dieses Mal nicht zu überzeugen vermag. Wieder ist die Auseinandersetzung zwischen Herodot und Ktesias Mittelpunkt des Aufsatzes, wenn Bichler den literarischen contest zwischen den Historiographen und ihren konstruierten Heldenfiguren Sesostris und Semiramis erörtert.

Im letzten Beitrag „Der Antagonismus von Asien und Europa – eine historiographische Konzeption aus Kleinasien?“ (2014), S. 236-252, überblickt Bichler einmal mehr die griechische Historiographie. Der oftmals auf Herodot zurückgeführte Antagonismus von Asien und Europa wird anhand präziser Quellenkritik widerlegt und als moderne Verkennung enttarnt. Dabei wird weniger der Asien-Begriff kritisiert, sondern vielmehr das Verständnis von Europa oder einer europäischen Identität. Diese hat es, wie Bichler stimmig zeigt, in der Antike nicht gegeben, sondern allenfalls eine hellenische, eine makedonische oder eine römische Identität.

Es folgen ein Schriftenverzeichnis der Jahre 2007-2016 (S. 253-258) sowie ein Stellen- und Namensregister (S. 259-271).

Reinhold Bichlers Stärke liegt nicht nur in einer fundierten Kenntnis der griechischen Literatur und einer scharfsinnigen Quellenkritik, sondern auch in der Wahrnehmung neuerer und moderner, oftmals ideologisch belasteter Forschungstendenzen. In vielen Beiträgen setzt sich Bichler mit der Forschung auseinander und relativiert oder korrigiert plakative Pauschalurteile. Der letzte Beitrag zum Antagonismus von Europa und Asien verknüpft diese beiden Kompetenzen souverän. Auch der elfte Artikel zur ideologisch aufgeladenen Verkennung des Alexanderreichs fällt in diese Kategorie. Bichler beweist, wie selbst die jüngste Forschung trotz moderner Quellenkritik nicht von der massgebenden Quelle (Plutarchs de Alexandri magni fortuna aut virtute, Moralia 326d-345b) wegkam und so das Bild oft zu einseitig beliess. So wäre laut Bichler Alexanders „zivilisatorische Mission“ niemals möglich gewesen ohne die Strukturen des Achaimenidenreiches und einer hohen „Intensität der wechselseitigen kulturellen Durchdringung im Kontakt der Griechen mit dem Persischen Reich“ (S. 196). Vor diesem Hintergrund scheinen moderne Pauschalurteile wie die einer „Öffnung der Welt“ durch den Makedonenkönig (S. 192) kaum gerechtfertigt.

Von besonderer Qualität ist auch der vierte Artikel zu den Schlachtenbeschreibungen, der über die Historiographie hinaus kritisch-methodologische Gedanken anführt. Wie kann, so Bichler, überhaupt noch Geschichtsschreibung geleistet werden, wenn der moderne Historiker anhand eigener Interessen und denen des Publikums im Dienst einer „Komplexitätsreduktion“ (S. 44) eine Auswahl seines Materials und eine eigene Gliederung leisten muss, insbesondere, da seine antiken Quellen bereits vor derselben Aufgabe standen? Kann in diesem Moment noch eine sachliche Richtigkeit bewahrt werden? Bichler bleibt in seinem Urteil souverän ambivalent, doch sind seine Einwände von grosser Bedeutung. Zentral dabei ist die Perspektive des Autors („Sehepunkt“, S. 54), die eine „objektive“ Erfassung des gesamten Schlachtenverlaufs unmöglich zu machen scheint. 4 Auch wenn der Geschichtsschreiber selbst am Schlachtgeschehen beteiligt war (Bichler behandelt beispielsweise Gaugamela, Mantineia oder Pharsalos), so führt die perspektivische Befangenheit des Erzählers doch zu entweder überhaupt keinen Erkenntnissen von Teilen der Schlacht, oder allenfalls zu einer asymmetrischen Berichterstattung. Ein weiteres Problem erwähnt Bichler nur en passant, nämlich die dem Usus des Genres entsprechenden standardisierten Schlachtnarrative. 5 Diese sind sicherlich auch eine Folge der erstgenannten Schwierigkeit, sie verhindern aber in grossem Masse eine sachliche Erörterung antiker Schlachten. „Battle descriptions are by nature higly artificial“, urteilt Lendon in seiner massgebenden Studie. 6 Von der Rhetorik und der Literaturgattung vorgegebenen Schemata führten dazu, dass antike Schlachtenberichte völlig anderen Regeln folgten, als unsere sachlich orientierte Geschichtsschreibung dies gerne hätte. 7 Bichler urteilt zuletzt doch kritisch, dass eine objektive Erfassung antiker Schlachtgeschehen nur bedingt möglich sei.

Nebst den genannten Artikeln sticht Bichler mit präziser Quellenkritik einzelner Textabschnitte und ihrer Rezeption hervor. Dabei drohen aber auch – dem Aufbau des Bandes geschuldet – müssige Wiederholungen. Die Auseinandersetzung zwischen Ktesias und Herodot ist Bichlers Steckenpferd in diesem Band und anderen Publikationen. Die Beiträge 2, 5 und 12 sind spezifisch diesem Thema gewidmet. Herodot allein wird darüber hinaus in den Beiträgen 3 und 8 behandelt. Der (Re-)Konstruktion von Vergangenheit und der Periodisierung der Geschichte sind die Beiträge 1 und 7 gewidmet. Einem Durchlesen des Buches von a bis z ist die Gliederung des Buches – die sich dem Rezensenten nicht erschliesst – überhaupt abträglich, thematische Sprünge und Wiederholungen zu früheren Artikeln sind unvermeidbar und störend. Ein nach Themen gegliederter Aufbau hätte das Material besser ordnen können und hätte unmittelbar verwandte Themen für den Leser sichtbar miteinander verknüpft.

Diese Gliederung und die fehlende Ordnung der Artikel sind für einen gescheiten Zugang zum Sammelband fatal. Es war offensichtlich nicht Anspruch der Herausgeber, ein Buch zur Lektüre von Anfang bis Schluss zu erstellen; eine vernünftige Gliederung hätte aber durchaus diesem Anspruch gerecht werden können. Abgesehen davon sind einzelne Aufsätze, insbesondere zu Ktesias, kleine Juwelen für sich. Bichler schreibt lebendig, unterhaltsam und mit Witz. Der Band besticht mit tadelloser Orthographie und insgesamt hoher Qualität. Daher sei Bichlers „Gesammelte Studien 4“ für die Lektüre einzelner Beiträge dringend ans Herz gelegt.

Notes

1. Tl. 1: Studien zu Herodots Kunst der Historie, Tl. 2: Studien zur Utopie und der Imagination fremder Welten, Tl. 3: Studien zur Wissenschafts- und Rezeptionsgeschichte (Wiesbaden 2007-).

2. Vgl. dazu die Konstruktion von Vergangenheit in römischer Historiographie und Biographie, die einem ähnlichen Muster folgte, s. Thomas Späth, Faits de mots et d’images, Les grands hommes de la Rome Ancienne, in: Traverse 5/1 (1998), 35-56.

3. Bichler situiert sich auch in der Neuedition der Fragmente und Kommentierung durch Dominique Lenfant, Ctésias de Cnide. La Perse. L’Inde. Autres fragments. Paris (Les Belles Lettres) 2004. (Review: BMCR 2007.02.46) Bichler setzt sich mit Lenfant und Ktesias in zahlreichen anderen Artikeln auseinander, so seine Rezension von Lenfant in Gnomon 79 (2007), 396-400 oder „Ktesias spielt mit Herodot“, in: J. Wiesehöfer et al. (Hg.): Ktesias’ Welt / Ctesias‘ World (Classica et Orientalia 1, Wiesbaden 2011), 21-52.

4. Bichler geht hier von der wegweisenden Studie von John Keegan aus, Die Maske des Feldherrn. Alexander der Grosse, Wellington, Grant, Hitler (Weinheim; Berlin 1997, engl. 1987).

5. Genannt wird in diesem Zusammenhang Stefan Gerlinger, Römische Schlachtenrhetorik. Unglaubwürdige Elemente in Schlachtenschilderungen, speziell bei Caesar, Sallust und Tacitus (Heidelberg 2008).

6. J.E. Lendon, The rhetoric of combat: Greek military theory and Roman culture in Caesar’s battle descriptions, in: Classical Antiquity 18 (1999), 273-329, hier 274.

7. Vgl. die Überlegungen in T.P. Wiseman, Practice and Theory in Roman Historiography, in: History 66 (1981), 375-393 und D.A. Russell, Rhetoric and Criticism, in: Greece & Rome 14 (1967), 130-144.