BMCR 2016.10.21

Kommentar zu Epiktets Encheiridion. Wissenschaftliche Kommentare zu griechischen und lateinischen Schriftstellern

, Kommentar zu Epiktets Encheiridion. Wissenschaftliche Kommentare zu griechischen und lateinischen Schriftstellern. Heidelberg: Universitätsverlag Winter​, 2015. 411. ISBN 9783825364779. €98.00.

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Die philologische Leipziger Dissertation von Ulrike Brandt dokumentiert zusammen mit dem detaillierten Kommentar von L. Willms zu Epiktets Diatribe „Über die Freiheit“ (4.1) (2 Bde., im selben Verlag 2011/12 erschienen) eine erfreuliche Entwicklung in der Forschung zu Epiktet: Einzelne Texte werden individuell als literarische Einheiten wahrgenommen und nicht mehr vorschnell in Gesamtkonstruktionen eingeebnet. Der vorliegende Kommentar ist gut gelungen und bereichert die Forschung über Epiktet und die kaiserzeitliche Stoa.

Die Einleitung (p. 11–43) stellt schon zu Beginn die Leitthese voran: Es ist „das Ziel des vorliegenden Kommentars, mit Rücksicht vor allem auf die eigentümliche Synthese von rhetorischer und argumentativer Darstellung die Funktion von Epiktets Encheiridion als Übungsbuch zur charakterlichen Selbstbildung darzulegen und die eigenständige, von den Diatribai unabhängige Bedeutung des Handbüchleins aufzuzeigen, das als eines der ersten philosophischen Handbücher überhaupt gelten darf“ (p. 13). Faktischer Autor des Encheidiridon ist zwar Arrian (bald vor 150 n.Chr.), aber Diktion und Gedankenwelt weisen doch auf Epiktet zurück (p. 13–15). Die Verfasserin bleibt an diesem Punkt aber doch sehr unbestimmt (p. 15: „ungewiss“). Profiliert ist hingegen der literarische Vergleich mit den Diatriben ( dissertationes) (p. 15–17). Die schon vom ersten Kommentator, Simplikios (6. Jh. n.Chr.) angestossene These, das Handbüchlein gebe lediglich Passagen der Dissertationen wieder und sei als Exzerpt bzw. als Epitome zu erachten, wird bündig als irreführend erwiesen (Ench. 29 als wörtliche Wiedergabe aus Diss. 3,15 wird als Interpolation identifiziert, p. 15s.; 190s.). Tatsächlich finden sich recht viele Abschnitte ohne Parallele in den Diss. (p. 92). Das Encheiridion ist als Repräsentant der vielgestaltigen Textsorte Handbuch zu bestimmen, durchaus vergleichbar mit den Kyriai doxai Epikurs, und zwar speziell als „Übungsbuch, das angewandte Lebenstechnik vermittelt“ (p. 27). Es handelt sich also um ein „Lehrbuch zur charakterlichen, seelischen Übung“, nicht um ein Nachschlagewerk.

Der Abschnitt zur Textform (p. 17–36) bespricht nicht nur die Gattungsfrage, sondern macht auch einen ansprechenden Vorschlag zur Disposition des Manuals (p. 21–23): Es ist nicht streng gegliedert, aber auch nicht willkürlich arrangiert, sondern leitet die Leserschaft auf einem Übungsweg; Anfang und Ende mit den kardinalen Leitsätzen haben programmatischen Stellenwert. Die Darstellung der verschiedenen psychagogischen Techniken, die im Werk Epiktets zum Einsatz kommen, ist vorzüglich geraten (v.a. p. 23–28): ‚Meletische‘ und ‚asketische‘ Übungen, in deren Zentrum die Selbstsorge (die sokratische epiméleia heautoũ) steht als Ausdruck eines umfassenden Bildungsprogramms vernünftiger Selbstgestaltung. Erst vor diesem Hintergrund lässt sich die Eigenart des Handbüchleins erfassen: Anders als in den Dissertationen tritt der Lehrer, der sich hier im intensiven fiktiven Gespräch mit Schülern und Gegnern befindet (Diatribenstil), zurück: Das Handbuch übereignet „seinen Lesern die ganze Verantwortung, in beliebigen Lebenssituationen auf sich selbst aufzupassen. Die Diatribe, die schulende Unterredung mit einem Lehrer, weicht einem Übungsprogramm von Selbstappellen und -ermahnungen“ (p. 29). Aus diesem Grund gehört das Manual nicht an den Anfang (so vielfach angenommen), sondern vielmehr ans Ende des epiktetischen Bildungsprogramms! Brandts Arbeit ist hier so überzeugend wie innovativ. Angemessene Beachtung findet deshalb auch das Format des Selbstgesprächs ( soliloquium), hier durchaus mit Marc Aurels Schrift vergleichbar (p. 31s.). Gerade das Genre der Selbstermahnung macht das Handbuch zum Werkzeug der (weit) Fortgeschrittenen ( prokóptontes), denen ein Übungsplan an die Hand gegeben wird – „unabhängig von Lehrer und Schrift“ (p. 34). Auch wenn die Profilierung des Encheiridion durch die Verfasserin sehr zu begrüssen ist, ist umgekehrt doch zu fragen, ob sich der Kontrast zwischen diesem und den Dissertationen so scharf zeichnen lässt (zumal die neuere Forschung zum Komplex ‚Diatribe‘ nicht wahrgenommen worden ist – die Hinweise p. 17 sind gar dürftig). Der letzte Teil der Einleitung bespricht Überlieferung und Rezeption (p. 36–43); am Schluss wird zu Recht auf die trendige Ratgeberliteratur verwiesen. Brandt befindet sich im steten Gespräch mit den Arbeiten von G.J. Boter (der auch im Vorwort verdankt wird); die christlichen Paraphrasen finden allerdings nur wenig Beachtung.

Der Hauptteil des Buchs besteht in einem sorgfältig gearbeiteten Kommentar. Zugrunde gelegt wird offenbar weitgehend der Text der Teubner-Ausgabe von G.J. Boter (2007) (vgl. p. 38s.). Die Kommentierungsmethode ist schlicht; jedes Kapitel wird einzeln besprochen, zunächst in einer „Übersicht“, vielfach in Form einer Paraphrase, dann in einer detaillierten Analyse von Satzteilen (Syntagmen) mit Referenzen auf das Handbüchlein selber, auf Epiktets Dissertationen und, darüber hinaus, auf die philosophischen Traditionsbildungen. Besonderes Interesse gilt dem jeweiligen Verhältnis von rhetorischer und argumentativer Darstellung. Wer immer sich mit Epiktet oder überhaupt stoischer Philosophie beschäftigt, wird hier nicht nur viel Material finden, sondern auch auf überzeugende Beobachtungen stossen. Es ist ja gerade die Aufgabe eines Kommentars zu einer Einzelschrift, Textaussagen mit wachem Blick auf die jeweilige spezifische literarische und pragmatische Funktion herauszuarbeiten und von den überkommenen Traditionen abzuheben. So finden sich beispielsweise instruktive Darstellungen zum Freiheitsverständnis (51s.) oder zur Prohairesis (p. 76ss.).

Mit zwei Kommentarsegmenten hat sich der Rezensent nicht leicht anfreunden können. Da ist zum einen die Besprechung des berühmten Gleichnisses vom Steuermann (Ench. 7) (p. 91–99). Für das Verständnis dieses schwierigen Bildworts hätte man sich eine detailliertere Präsentation und Diskussion der in der Forschung vertretenen Interpretationsmodelle gewünscht. Die von Brandt vorgeschlagene sehr generalisierende Deutung, die von der Seefahrt als Metapher für das Leben ausgeht, wird den eigentümlichen Bildfeldern, wo es um rechtzeitiges Aufbrechen – und damit um das Sterben?! – geht, nicht hinreichend gerecht. Eine eingehende Auseinandersetzung mit der – durchaus eigenwilligen, aber seinerzeit einflussreichen – philosophischen Auslegung von W. Kamlah, Der Ruf des Steuermanns, 1954, hätte man begrüsst. Darüber hinaus: Wer sich an die Auslegung von Gleichnissen macht, kommt heute um einen Blick auf literaturwissenschaftliche Ansätze, die teilweise einen erheblichen Theorieaufwand betreiben, nicht mehr herum.

Zum anderen: Das letzte Kapitel des Handbuchs (53) zitiert Gebetsverse des Kleanthes; sie haben für Epiktet wie für das Manual einen kaum zu überschätzenden Stellenwert. Der Kommentar bleibt bei deren Besprechung eigenartig unbestimmt (p. 319s.). Zunächst hat man den Eindruck, es liege schlicht eine Kontamination dieser vier Verse (= SVF I 527) mit dem bekannten grossen Zeushymnus des Philosophen (= SVF I 537) vor: Brandt führt die Gebetsverse auf Kleanthes’ „Zeushymnos“ zurück („Knapp ein Drittel der Kleanthes-Verweise bezieh sich auf dessen Zeushymnos“). Im Fortgang gewinnt man dann aber den Eindruck, dass die Kommentatorin mit zwei verschiedenen Zeushymnen rechnet (in Anm. 1463 droht wieder Kontamination durch die falsche Angabe „SVF I 527“ statt 537). Aber woher will man wissen, dass Kleanthes’ Gebetsverse einem – sonst nicht bekannten – anderen (Zeus-)Hymnus entstammen? Es fehlt an dieser Stelle auch ein Hinweis auf die (arg breite) Diskussion der Kleanthesverse durch Willms im oben schon genannten Kommentar zu Diss. 4.1 (II, p. 710–717) sowie natürlich auf die kommentierte Ausgabe des grossen Zeushymnus durch J.C. Thom (2005).

Die Bibliographie stellt die einschlägigen Titel zusammen. Eigenartigerweise wird ganz auf die Nennung von Monographienreihen u.ä. verzichtet. Zwar nicht hilfreich, wohl aber sympathisch ist der Hinweis auf ein unveröffentlichtes Werk aus dem Angehörigenkeis (p. 329; 92; 96).

Es finden sich, soweit ich sehe, nur sehr wenige Druck- oder Schreibfehler (p. 12; 30; 93; 143; 319).

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Einleitung – 11
I Forschungsstand – 11
II Entstehung – 13
III Verhältnis zu den Diatribai – 15
IV Textform – 17
1 Gattung und Titel – 17
2 Aufbau und Funktion – 21
3 Stil und Adressaten – 31
V Überlieferung und Rezeption – 36
Kommentar – 45
Bibliographie – 325