BMCR 2015.10.38

Jean Philopon. Traité de l’astrolabe. Collection des universités de France. Série grecque, 512

, Jean Philopon. Traité de l’astrolabe. Collection des universités de France. Série grecque, 512. Paris: Les Belles Lettres, 2015. clxxxviii, 72. ISBN 9782251005966. €47.00 (pb).

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Es ist ein ungewöhnliches Zusammentreffen, dass eine nicht unbedeutende, aber doch etwas abseits gelegene Spezialschrift, die seit mehr als anderthalb Jahrhunderten nie mehr textkritisch ediert worden ist, ganz unabhängig voneinander innerhalb weniger Monate gleich in zwei verschiedenen traditionsreichen Textreihen herausgekommen ist: In den letzten Wochen des Jahres 2014 wurde in der Bibliotheca Teubneriana, Series Graeca (jetzt bei De Gruyter) die Schrift des Johannes Philoponos ‚De usu astrolabii eiusque constructione’ publiziert1, kurz darauf ist im Mai 2015 in der Série grecque der Belles Lettres als 512. Band die hier anzuzeigende Edition von Claude Jarry‚ Jean Philopon. Traité de l’astrolabe erschienen. Die Bedeutung der für die Wissenschaftsgeschichte wichtigen Fachschrift besteht vor allem darin, dass es sich um die älteste erhaltene Beschreibung des später im Mittelalter, vor allem auch im islamischen Bereich, weit verbreiteten astronomischen Gerätes handelt. Es ist somit vielleicht doch mehr als ein Zufall, dass von zwei verschiedenen Seiten her unabhängig das Bedürfnis empfunden wurde, den Traktat über das Astrolabium des Philoponos in einer Neubearbeitung zu edieren, welcher seit der als Beitrag im Rheinischen Museum von 1839 erstmals erschienenen Ausgabe von Heinrich (sic) Hase2—abgesehen von der weitgehend den Hase-Text rezipierenden Publikation von Alain Ph. Segonds3—nie mehr kritisch ediert worden ist. Da der Verfasser der vorliegenden Rezension zugleich Herausgeber der genannten Teubner-Ausgabe ist, wird die Besprechung mehr vergleichenden als kritisierenden Charakter haben.

Es liegt in der Natur der Sache, dass die zwei Ausgaben, die in den Belles Lettres (BL) und diejenige in der Teubneriana (Tb), ihrer Struktur nach ähnlich aufgebaut sind (abgesehen von der etwas umständlichen abwechselnd römischen und arabischen Paginierung)4: Beiden Ausgaben sind Erläuterungen beigegeben, wobei diese in der BL-Ausgabe als Einführung sehr ausführlich angelegt sind (p. I-CLXXXV und—nach S. 48—p. CLXXXVI-CLXXXVIII), während sie in der Tb-Ausgabe als Anhang sich auf das Nötigste beschränken (S. 65-86). Beiden Erläuterungen sind erklärende Zeichnungen beigegeben, die sich in der BL-Ausgabe mehr allgemein auf das Astrolab beziehen, während in der Tb- Ausgabe die Konstruktionszeichnungen mit den Beschriftungen speziell auf das von Philoponos beschriebene Gerät ausgerichtet sind; so sind dort etwa die Positionen von 17 Sternspitzen auf der Arachne für die Zeit um Ptolemaios nachgerechnet worden.5 Dass ferner den Originaltexten moderne Übersetzungen beigegeben sind, ist bei den Belles Lettres-Ausgaben lange Tradition, bei den Teubner-Texten eher die Ausnahme. Beide Herausgeber haben es schliesslich für nützlich erachtet, eine lexikalische Zusammenstellung von Fachausdrücken anzuführen, so in der BL-Ausgabe S. 59- 63, in der Tb-Ausgabe S. 91-93 (dort auch mit Stellenangaben zu den einzelnen Termini).

Der Hauptunterschied der beiden Ausgaben besteht darin, dass Jarry eine breit angelegte Sichtung des ganzen überlieferten handschriftlichen Materials vorlegt. Die Ausgabe von Hase begnügte sich seinerzeit weitgehend mit den zwei sehr späten Pariser-Handschriften A und B; Tannery hatte für seine ‚Notes critiques’6 die ältere, von Hase nur am Rande berücksichtigte Pariser-Handschrift C stärker gewichtet und punktuell zwei weitere Parisini D und E benützt. In der Teubner-Ausgabe ist neben den fünf genannten Pariser Handschriften zusätzlich eine Florentiner-Handschrift aus dem 14. Jh. herangezogen worden. Es ist daher ein besonderes Verdienst von Jarry, dass er ausführlich die breite handschriftliche Überlieferung aufgearbeitet hat (p. LXIX – CLXIX). Unter Benützung von Vorarbeiten von A.P. Segonds listet er zunächst—nach Bibliotheksstandorten geordnet—74 Astrolabhandschriften des Philoponos auf, von denen er die beeindruckende Zahl von 48 Codices kollationiert hat (p. LXIX–LXXV). Anschliessend folgt eine detaillierte Beschreibung der einzelnen Handschriften, die aufgrund von bestimmten Unterscheidungsmerkmalen wie Randglossen und Auslassungen fünf verschiedenen Familien (π , α, ε, γ, Φ) zugeordnet werden und deren Beziehungen untereinander zunächst mit Stemmaskizzen für jede Familie sichtbar gemacht werden (p. LXXV-CLXVI). Dann wird mit einem alle Textfamilien umfassenden Gesamtstemma-Entwurf der Versuch gewagt, die verschlungenen Überlieferungswege zu veranschaulichen (p. CLXVII–CLXIX). Schliesslich wird die detaillierte Beschreibung der einzelnen Handschriften und Handschriftengruppen abgeschlossen mit einer Skizze der Textgeschichte, die versucht, unter Annahme von verschiedenen heute verlorenen Archetypen und Sub-Archetypen die komplexen Abhängigkeiten in einen Werdeprozess einzuordnen (p. CLXXI-CLXXIX): Jedenfalls handelt es sich um eine zwar sehr breite, aber eher junge Überlieferung, die etwa um 1300 in Byzanz nachweisbar ist (möglicherweise unter dem Einfluss von Planudes: p. CLXXIII 7 ) und mit sieben Hss. vertreten ist, denen 12 aus dem 14. Jh. und 23 aus dem 15. Jh. folgen und mit 25 weiteren Hss. bis ins 19. Jh. die Tradition fortsetzt.

Nun zum Kernstück des vorliegenden Bandes, nämlich zur eigentlichen Textausgabe (p. CLXXXI-CLXXXV und S. 1-45): Zur Konstituierung des griechischen Textes trifft Jarry unter den 74 oben angeführten Astrolabhandschriften eine Auswahl von neun Codices (vier Parisini, drei Vaticani, ein Mutinensis, ein Marcianus), während sich die Teubner- Ausgabe mit sechs Handschriften begnügt hat. Dabei ist allerdings bemerkenswert, dass nur eine Handschrift, der unvollständige Parisinus Graec. 1921 (C) zum gemeinsamen Bestand beider Ausgaben gehört, während die andern acht Hss. erstmals zu einer Textedition herangezogen wurden. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die beiden Ausgaben hinsichtlich des Varianten-Bestandes des textkritischen Apparates sehr verschieden sind. Die Texte selber aber unterscheiden sich trotz der unterschiedlichen handschriftlichen Basis im Grossen Ganzen nur an verhältnismässig wenigen sinnrelevanten Stellen; das hängt mit der Natur des Traktates zusammen, der weitgehend eine überprüfbare Sachinformation darstellt, bei welcher die zahlreichen offensichtlichen Fehler in den Handschriften leicht erkannt und korrigiert werden können.

Vorweg zu einer für den praktischen Gebrauch nicht unwesentlichen Äusserlichkeit: Der Traktat ist in den Handschriften in ein Prooemium und 14 Kapitel unterteilt, die bereits in der französischen Übersetzung von Tannery und dann in der Teubner-Ausgabe von 1-15 nummeriert wurden; in der BL-Ausgabe wird das Prooemium nicht mitgezählt und die Kapitel—unter Verschiebung um 1 Ziffer—von I bis XIV durchgezählt. Überlagert ist die Kapitelzählung in römischen Ziffern mit einer fortlaufenden Zählung von Paragraphen in arabischen Ziffern von 1–25, die jeweils eine gute Seite (ungefähr nach der Seitenzählung von Hase) umfasst und eine präzise Zitierung von Textstellen erschwert. Daher wird im Folgenden nach der Tb-Ausgabe zitiert, welche erstmals innerhalb der Kapitel eine Paragraphenzählung eingeführt hat.

Nun zu den Unterschieden: – Der überwiegende Teil der Unterschiede zwischen der Belles Lettres-Ausgabe und der Teubner-Ausgabe betreffen inhaltlich belanglose, im Ermessensspielraum des Editors liegende Kleinigkeiten wie Wortreihenfolge (z.B. 1,1 ἐσπουδασμένην διδασκάλῳ BL statt διδασκάλῳ ἐσπουδασμένην Tb, 3,19 ἕτεροι κύκλοι τρεῖς BL statt ἕτεροι τρεῖς κύκλοι Tb u.a. St.), Wortwahl oder Wortform (z.B. 3,21 δηλωτικὸν ὑπάρχει BL statt δηλοῖ Tb, 3.22 κατατέμνεσθαι BL statt τέμνεσθαι, 10,1 χρείαν BL statt χρῆσιν Tb u.a.; 3,4 δύο BL statt δυσὶν Tb ), oder andere Kleinigkeiten (z.B. 11,5 ταύτας [sc. μοίρας] BL statt τούτους [sc. χρόνους] Tb).
– In zahlreichen Fällen dürfen Lesarten, die in der Tb vorsichtshalber als Ergänzung oder Konjektur gekennzeichnet waren, nun gemäss der BL als handschriftlich gesichert gelten, was eine weitgehend übereinstimmende Beurteilung der Textvarianten durch die beiden Editoren bezeugt: so etwa 3,24 χειμερινοῦ ⟨τροπικοῦ⟩, 5,5 Tilgung von [ἡλίου], 5,15 διώπτευται, 6,7 ἐν πάσῃ τῇ, 9,13 ⟨θέσιν⟩, 13,4 ⟨τῆς⟩ λόξεως, 13,14 ⟨τὸ⟩ αὐτό, u.a.St.m.

Ferner finden sich einige kleine sinnrelevante Divergenzen; hier einige Beispiele: – Zunächst zum beschriebenen Instrument: Jarry geht davon aus, dass die Alhidade bei Bedarf von der Diopterseite auf die Arachneseite versetzt wird (so Anm. 29 S. 54; vgl. auch die Abb. 1 p. XL). Nun unterscheidet aber Philoponos zwischen δίοπτρα (Alhidade mit Visiervorrichtung) und μοιρογνωμόνιον (Zeiger ohne Visiervorrichtung: etwa 11,4) auf der Arachneseite; das Instrument besitzt also für die Stundenbestimmungen und andere Zwecke einen zweiten Zeiger; vgl. die Abb. 2 S. 75 der Tb.
– Im Titel der Schrift steht nach χρήσεως in einigen Hss. (so auch im Parisinus Gr. 2491, einer der ältesten Hss.) noch καὶ κατασκευῆς (vgl. p. LXXXIII), das Hase und die späteren Herausgeber übernommen haben. Jarry athetiert nun καὶ κατασκευῆς mit der Begründung, dass nirgends von der ‚construction’ die Rede sei. Versteht man aber unter κατασκευή nicht die handwerkliche Herstellung, sondern den Aufbau des bereits hergestellten Gerätes, hat das Wort durchaus seine Berechtigung. So oder so hätte es verdient, mindestens im textkrit. App. erwähnt zu werden, um nicht spurlos zu verschwinden.
– Dem eigentlichen Text stellen verschiedene Hss.—ähnlich wie in Ptolemaios-Handschriften—in gut byzantinischer Manier eine Kapitelübersicht (πίναξ) voran; diese in den Text aufzunehmen ist durchaus sinnvoll, auch wenn sie kaum zum ursprünglichen Bestand des Philoponos-Textes gehört.
– In 2,1 ist die getilgte, nur im App. angeführte Bemerkung τῷ μεσημβρινῷ … ἀναλογοῦσιν aus grammatikalischen Gründen notwendig, da αἱ μὲν… εὐθεῖαι das Prädikat ἀναλογοῦσιν verlangen.
– In 3,25 ist im Parisinus Graec. 2409 ein Randscholion aus seiner Vorlage, dem Parisinus Graec. 2490, in den Text eingefügt und später von einem Korrektor zu Recht getilgt worden (vgl. p. LXXXV). Da es sich aber um eine hoch interessante Angabe, nämlich um den aus dem Almagest des Ptolemaios stammenden präzisen Ekliptikwert handelt, wäre es sinnvoll, das Scholion in Klammern im Text oder mindestens im Apparat als Beleg für die Kenntnis des Ekliptikwertes im 15. Jh. zu erwähnen.
– Bei der Beschreibung des—scheinbaren—Weges der Sonne in der Nacht von Westen nach Osten ist 11,4 die Variante πρὸς ἀνατολήν (statt δύσιν) wohl sachlich richtig, trotz der Erklärung Anm. 39 S. 55).

Die sprachliche Gestaltung der französische Übersetzung zu beurteilen, welche die 1927 postum erschienene Version von Tannery8 ersetzt, überlässt der Rezensent gerne einem ‚native speaker’. Hier nur wenige Bemerkungen zur Wiedergabe einiger Fachausdrücke: Für einige häufig vorkommende Begriffe wie δίοπτρα oder παράλληλοι verwendet Jarry die aus der islamischen Tradition übernommenen, später sehr verbreiteten Fachaudrücke ‚l’alidade’ und ‚les almicantarats’, während in der Tb die aus dem Griechischen stammenden Fremdwörter Diopter und Parallelkreis beibehalten wurden. Als Bezeichnung von Himmelsrichtungen übersetzt Jarry ἀνατολή und δύσις, in Anlehnung an die Grundbedeutung der Wörter, mit ‚le levant’ bzw. ‚le couchant’, während in der Tb die mehr sachbezogenen Wörter ‚Osten’ und ‚Westen’ verwendet werden. In 10,2 übersetzt Jarry δοχεῖον zutreffend mit ‚réceptacle’ (analog in der TB l.c. ‚Behälter’), und meidet das spätere Fachwort ‚mère’ bzw. ‚matrice’ (dazu Anm. 37 S. 29).

Abschliessend sei festgehalten, dass der Rezensent ganz dem Urteil Jarrys zustimmt, ‚nous n’avons … aucune raison de mettre en doute le fait que le ‚Traité de l’astrolabe’ de Philopon soit une oeuvre largement autonome’ (p. LI).

Notes

1. Ioannes Philoponus. De usu astrolabii eiusque constructione. Über die Anwendung des Astrolabs und seine Anfertigung. Unter Mitarbeit von Heiner Rohner herausgegeben, übersetzt und erläutert von Alfred Stückelberger. Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana. BT 2016, De Gruyter, Berlin 2015.

2. Das Verdienst, Ersteditor der Philoponos-Schrift zu sein, gehört H(einrich) Hase (1789-1842), dem ‚Marmorum Dresdensium Regius Custos’, wie er sich selbst auf dem Titelblatt vorstellt, nicht Charles Benoît Hase/alias Karl Benedikt Hase (1780-1864), wie schon Segonds irrtümlich (l.c. 113) und jetzt auch Jarry (p. IX, p. CLXXXII und S. 67) angeben. (vgl. ADB 10,724f.).

3. A.P. Segonds, Jean Philopon, Traité de l’astrolabe, Astrolabica 2, Paris 1981.

4. Auf die Einleitung I-CLXXXV folgt S.1-45 der Philoponos-Text mit Übersetzung; daran schliesst S. 46-48 ein Scholion an; dann folgt CLXXXVI-CLXXXVIII die Einleitung zu drei ‚articles additifs’ mit Text S. 49f. Auf S. 51-57 versetzt sind Anmerkungen zum Text, welche die Fussnoten ergänzen; S. 59-63 folgt eine lexikalische Zusammenstellung von Fachausdrücken, gefolgt von einer Bibliographie S. 65-72.

5. Die von Philoponos 8,1 (zur Zitierweise s.u.) genannte Zahl von 17 Fixsternen, die bei zahlreichen späteren Astrolabien tatsächlich belegt ist, dürfte damit zu tun haben, dass Ptolemaios in seinem Fixsternkatalog genau 17 Sterne erster Grössenordnung anführt.

6. Paul Tannery, ‚Notes critiques sur le traité de l’Astrolabe de Philopon’, Revue de la philologie, de littérature et d’histoire anciennes 12, 1888, 60-73.

7. Dass sich unter den ältesten, um 1300 entstandenen Handschriften der Cod. Vaticanus Graec. 191 befindet, der fol. 128-169 auch die ‚Geographie’ des Ptolemaios enthält, mit deren Rezension sich Planudes intensiv beschäftigt hat, ist wohl kein Zufall.

8. Paul Tannery, ‚Jean le Grammairien d’Alexandrie (Philopon). Sur l’usage de l’astrolabe et sur les traces qu’il présente’, Postum hgb. von J.L. Heiberg/H.-G. Zeuthen, in: Mémoires scientifiques 9, Toulouse/Paris 1927/1929, 341-367.